Die Mutter Essenz Linie

Teil 1 – Yeshé Tsogyel

von Ngak’chang Rinpoche

Im Tibetischen Buddhismus ist die erleuchtete Yogini Yeshé Tsogyel (Ye-shes mTsho-rGyal) die grösste Inspiration und das wichtigste Rollenmodell für Frauen. Yeshé bedeutet ‚uranfängliche Weisheit‘ und Tsogyel bedeutet ‚Königin der ozean-gleichen Qualität des Geistes‘. Sie ist der weibliche Buddha der Nyingma Schule. Als historische Figur ist sie die Mutter aller Nyingma Linien. Yeshé Tsogyel zusammen mit ihren Inkarnationen und Emanationen sind für Frauen eine Inspiration als Rollenmodell und für Männer eine Inspiration als Lehrerinnen.

In der Mutter-Essenz-Linie gibt es drei verschiedene Typen von Lehrer-Schüler Beziehungen; sie beziehen sich auf mDo (Sutra), rGyud (Tantra) und rDzogs-chen (Mahasandhi). In Bezug auf Sutra benötigt man einen gleichgeschlechtlichen Lehrer. In Bezug auf Tantra benötigt man einen Lehrer des anderen oder entgegengesetzten Geschlechts. In Bezug auf Dzogchen ist das Geschlecht des Lehrers bedeutungslos. Entsprechend sind aus der Perspektive des Tantra weibliche Lehrer Rollenmodelle für Frauen und Lehrer für Männer – während männliche Lehrer Rollenmodelle sind für Männer und Lehrer für Frauen.

Innerhalb der Mutter-Essenz-Linie wird die ‚Praxis des alltäglichen Lebens‘ aus der Sicht des Tantra gelebt, und der ‚formellen Praxis‘ nähert man sich aus der Sicht des Dzogchen. Der Bericht der Mutter-Essenz-Linie ist in einem Stil geschrieben, der die ‚Sicht‘ mehr betont als die formelle Praxis, das heisst, er bevorzugt die Perspektive von Tantra. Auf das, was man in der Mutter-Essenz-Linie ‚die Sicht leben‘ nennt, wird allergrössten Wert gelegt. Es ist dies ein Praxis-Stil, der für Frauen speziell gut geeignet ist.

Yeshé Tsogyel war die Sang-Yum oder spirituelle Gefährtin von Padmasambhava. Padmasambhava wird in der Nyingma-Schule des Tibetischen Buddhismus der zweite Buddha genannt. Padmasambhava war der Gründer des Buddhismus in Tibet und die Nyingma (Alte) Schule verkörpert dessen erste Verbreitung als Folge der spirituellen Dynamik, die von Padmasambhava und Yeshé Tsogyel ausging. Padmasambhavas Geburt und Aktivitäten wurden von Buddha Shakyamuni vorausgesehen; er prophezeite, dass nach seinem Tod eine Wesenheit von ungeheurer Kraft und grossem Mitgefühl erscheinen werde, die fähig sein werde, die Lehre und die Praxis von Tantra zu übermitteln. Weisheit und aktives Mitgefühl sind die zwei primären Aspekte der Praxis von Tantra, und man betrachtet sie als weibliche und männliche Qualitäten. Weisheit und aktives Mitgefühl sind grundsätzlich die erleuchteten menschlichen Qualitäten von Leere und Form – die Ornamente der Nicht-Dualität. (Dies ist eine Lehre, die auch in den sutrischen Lehren grundlegend ist. Sie wird gefunden im Herz-Sutra, in dem gesagt wird, dass Form Leere ist und Leere Form.) In Bezug auf Tantra ist Padmasambhava Form oder aktives Mitgefühl, und Yeshé Tsogyel ist Leere oder Weisheit. So gesehen können alle Erscheinungen gedeutet werden als TANZ von Padmasambhava und Yeshé Tsogyel. Jeder Lama und sein oder ihr spiritueller Partner sind für die Schüler innerhalb der Ngakphang Sangha der Nyingma Schule Padmasambhava und Yeshé Tsogyel.

In der Mutter-Essenz-Linie sind Yeshé Tsogyel und ihre Inkarnationen und Emanationen von primärer Bedeutung, denn sie sind die Mutter der Vision und deshalb die Mutter von nicht-dualer Erfahrung. Tantra beinhaltet Methoden, die für Frauen speziell geeignet sind aufgrund ihrer Neigung zur Entwicklung von Vision. Innerhalb der Tantrischen Lehren wird gesagt, dass Frauen eine grössere Kapazität zur Realisation besitzen als Männer wegen ihrer natürlichen grösseren Resonanz mit der Sphäre der Visionären Praxis. Das grösste inspirierende Vorbild für die profunden Fähigkeiten von Frauen ist in der Tantrischen Tradition Yeshé Tsogyel. Sie war die erste tibetische Frau, die Buddhaschaft erlangte und sie hatte unzählige Inkarnationen und Emanationen in Tibet sowie in anderen Ländern des Himalaya. Der Visionäre Ursprung der Mutter-Essenz-Linie ist Yeshé Tsogyel und ihr Einfluss kann entlang ihrer Inkarnationen verfolgt werden bis ins zwanzigste Jahrhundert. Die Inkarnationen von Yeshé Tsogyel sind unter anderen: Machig Lapdrön; Jomo Menmo; Jomo Chhi’mèd Pema; und Jétsunma KhandroYeshé Réma – leztere ist jene Frau, die den rein visionären Enthüllungen, die man ‚Aro gTér der Mutter-Essenz-Linie‘ nennt, zur Geburt verhalf.

Diejenigen, welche mehr über das Leben von Yeshé Tsogyel erfahren möchten, verweisen wir auf das exzellente Buch ‚Sky Dancer‘ von Keith Dowman, welches ihre Geburt, ihr Leben und ihre Realisation beschreibt und dazu wunderbare Kommentare über die Natur der inneren drei Tantras gibt. Da dieser Text leicht erhältlich ist, ist es nicht nötig, hier näher darauf einzugehen.