Du musst dich dem eigenen Niveau der Angst zuwenden, und das wird Mitgefühl genannt – einfach mit dem zu sein ‚was da ist‘. Das ganze Gefüge dessen, was du fühlst, zu akzeptieren, ohne es ausagieren zu müssen oder wild um sich zu schlagen in einem irgendwie primitiven Versuch, dich selbst zu schützen. Wir müssen dem, was geschieht, vertrauen und uns in den reißenden Fluten unserer Gefühle entspannen. Wenn es etwas Raum gibt, dann wird das möglich. Es ist ein harter Ritt, aber wenn wir ‚diesen Ritt‘ verweigern, dann werden wir geritten… und die Sporen dringen tief ins Fleisch!
Q Ngak’chang Rinpoche, Khandro Déchen, wie kann man an sich arbeiten, wenn man feststellt, dass man nicht freundlich ist, wenn man Muster von Unfreundlichkeit entdeckt?
Ngak’chang Rinpoche Mangel an Freundlichkeit ist verbunden mit Situationen, in denen wir uns bedroht fühlen; nicht notwendigerweise bedroht in einem physischen Sinne, sondern bedroht im Sinne unserer Identität. Wie auch immer, vielleicht sollten wir daraus eine konkrete Diskussion machen?
Khandro Déchen Ja. Nehmen wir ein paar alltägliche Situationen. Man kann
zum Beispiel unfreundlich sein, weil man jemanden langweilig findet. Dies ist ein
langweiliger Mensch. Ich möchte mit diesem Menschen nicht reden, da verschwende ich nur
meine Zeit.
Dann ist es wichtig, sich selbst nach dem Warum zu fragen: Warum ist das so,
dass ich hier nicht freundlich reagiere habe? Ist das so, weil mein Lebenskonzept so ist, dass
es da andere Sachen gibt, die ich lieber tun würde? Ist das so, weil das Zusammensein mit
einem ‚langweiligen Menschen‘ die Qualität meines Lebens untergraben
würde?
Q Gibt es darauf eine Antwort als Teil des eigenen sinnstiftenden Systems?
KD Ja.
R Ich denke nicht, dass es möglich ist, freundlich zu sein, nur weil es
„koscher“ ist, freundlich zu sein. Man kann das sicherlich versuchen. Es ist
sicherlich der
Mühe wert, zu sagen: Lass uns versuchen hier freundlich zu sein.
KD Wie auch immer, es ist besser zu wissen, dass man Widerstände hat, als etwas zu sehr forcieren zu müssen.
R Ja, es gibt eine Reihe von Parametern, die man sich erst anschauen muss. Zum
Beispiel: Wie kommt es, dass ich keine Geduld mit diesem Menschen habe? Was hat diese Person
an sich, was mich unwirsch macht?
Q Kann man denn den Antworten trauen, die daraufhin aufsteigen?
R Nicht notwendigerweise (lacht). Es geht eher darum, dass man diese Fragen fragt
–
dass man in einer fragenden Gemütsverfassung ist. Man möchte etwas entdecken. Man
schreibt die Situation nicht einfach ab, indem man sagt: Meine Antworten und Reaktionen sind
alle gerechtfertigt und ich habe keine Probleme.
KD Der Prozess des Fragestellens ist wichtiger als die spezifischen Antworten, die du erhältst. Fahre einfach fort, die Fragen in der Situation selbst zu stellen.
Q Wie würde man das in Worte fassen? Gibt es eine bestimmte Weise, in der man diese Fragen stellen würde?
KD Nein.
R Die Weise, in der gefragt wird, bedarf keiner besonderen Formulierung, setz
dich einfach mit deinem Widerstand auseinander. Frage Worum geht es hier eigentlich?
gemäß deiner eigenen Sprachstruktur, aber mach das ernsthaft. Du musst das wirklich
herausfinden wollen. Der Versuch, es herausfinden zu wollen, ist der Beginn der Freundlichkeit.
Dann, wenn du zu dir selber sagst: Ich möchte das nicht tun; ich möchte diesem
Menschen nicht helfen.
Oder, Ich möchte diesen Menschen von mir stoßen, ich
möchte mich von diesem Menschen abtrennen.
KD Oder, Ich möchte nicht einfühlsam meinem jeweiligen Umfeld
gegenüber sein; ich möchte mein jeweiliges Umfeld dominieren und es ist wichtiger,
dass ich das bekomme, was ich brauche, als es für andere ist, berücksichtigt zu
werden.
R Oder Ich möchte hier etwas sagen, was wichtig für mich ist.
Das
könnte andere Leute bestürzen; das ist zwar hart, aber – ich muss etwas sagen.
Wenn
du entdeckst, dass du diese Dinge zur dir selbst sagst, dann musst du auf dich selbst schauen.
Du musst fragen: Warum tue ich das?
– nicht in einer furchtbar kritischen und
verurteilenden Weise – einfach um offen herauszufinden, woraus die eigene Angst besteht.
(Pause) Nicht (lacht), dass das Wissen davon, woraus die eigene Angst besteht, sofort dazu
führt, zwischenmenschliche Scheußlichkeiten zu verhindern – aber es ist ein
kreativer Anfang, was Freundlichkeit angeht.
KD Muster zu kennen – oder anzufangen, Muster kennen zu lernen, hält dich nicht davon ab, unfreundlich zu handeln, aber in Zukunft wirst du auf unfreundliche Weise handeln, während du das Muster kennst. Dies untergräbt den Mangel an Freundlichkeit.
R Nach und nach wird man argwöhnisch gegenüber seinen Mustern weil man sie mehr und mehr erkennt. Es ist viel einfacher, in anstößiger Weise zu handeln, wenn man das Muster nicht sehen kann, wenn man die Mechanik des Musters nicht erkennen kann. Teil des Prozesses des Unerleuchtetseins besteht darin, unsere Muster zu verbergen. Das Letzte, was wir wollen, ist unsere Muster zu sehen. Wenn wir sie sehen, dann wissen wir, dass etwas Künstliches geschieht. Die Weise, in der wir handeln, beginnt wie vorgezeichnet auszusehen. Ich werde eine wandelnde Anrufbeantworter-Ansage (lacht). Nach einer Zeit wird das irgendwie schrecklich – ich weiß, dass ich einem Muster folge, aber das Bedürfnis, es auszuagieren, besteht noch. Aber je mehr ich es sehen kann, desto ambivalenter fühle ich mich damit, es auszuagieren. Und doch … noch muss ich es ausagieren.
Q Und dann fange ich an das Ausagieren zu hassen.
R Ja gut, mag sein. Oder du wirst einfach überrumpelt.
Q Überrumpelt?
R Ich denke, ich möchte „dies“ tun … Aber meine Sinnesfelder haben andere Ideen: meine Augen möchten Cowboyfilme sehen; meine Ohren möchten Delta Blues hören oder Cellosonaten; meine Nase möchte Espresso riechen; meine Zunge möchte Lox & Bagels schmecken und meine Finger möchten meine 1886er Smith & Wesson Schofield Break-Top mit dem 8 Inch-Lauf und dem polierten Griff fühlen. Was auch immer ich „sein“ wollte, es verliert fünf zu eins.
KD Schlechte Chancen (lacht).
R Richtig. (lacht) Aber wie Daryl van Horn dargelegt hat: „Wir geben nicht die Karten, wir spielen die Prozentsätze.“ (Anmerkung – Zitat aus dem Film: „Die Hexen von Eastwick“)
Q (lacht) Wie jetzt …
KD Das ist einer der Gründe, warum es für einen Praktizierenden sehr
wichtig ist, in eine Ambivalenz einzutreten. Man muss sehen, was man tut und zu sich selbst
sagen: Ich möchte das nicht wirklich tun; ich sollte eher etwas anderes tun. Dennoch
möchte ich es noch tun.
Das bedarf eines Sinnes für Humor. Es ist sehr wichtig,
nicht in einen Geisteszustand einzutreten, in dem man sich ständig kritisiert.
R Es ist besser, einen Sinn für Humor zu entwickeln für den Zustand, in dem
Ich freundlich sein möchte, ihm aber gleichzeitig auch seine Nase brechen will!
Q Richtig – Aber man bricht ihm nicht die Nase.
R Das stimmt.
KD Ausgenommen „er“ ist es !!
R (lacht) Genau … aber eben sogar in dem Fall (lacht) eben gerade auch wieder nicht.
KD Sorry, ich war gerade ungezogen.
R Eine angebrachte und auch perfekte Ungezogenheit. So … Du hast da diese beiden
Ideen – diese kognitive Dissonanz oder emotionale Dissonanz: Dies ist ein
fühlendes
Wesen. Dieser Mensch leidet. Dieser Mensch möchte glücklich sein. Aber dieser Mensch
hat gelogen …
KD … und getäuscht und zu meinem Schaden manipuliert – und ich
möchte ihm die Nase brechen!
R Du erfährst diese beiden Perspektiven gleichzeitig. Freundlichkeit entsteht aus dem Anerkennen all dessen, was in dir vorgeht. Es ist das Erlauben, den Moment sein zu lassen, was auch immer er enthält, ohne Selbstbestätigung oder Zensur.
KD Das kann sehr real und unmittelbar sein.
R Ja, genau – Freundlichkeit kann einfach darin bestehen, den Raum zu lassen für Konfusion ohne etwas ausagieren zu müssen.
Q Du hast oft von Gewahrsein und Freundlichkeit als den zwei grundlegendsten Damtsigs oder Gelübden gesprochen. Bis jetzt hatte ich gedacht, Gewahrsein würde sich darauf richten, andere zu sehen. Dies hört sich an, als ob Gewahrsein hauptsächlich damit zu tun hat, wahrzunehmen, was in einem selbst vorgeht.
R Man könnte das sagen – besonders von dieser Perspektive aus.
Q Dann ist eines der Dinge, derer wir gewahr sind, unser eigener Widerstand?
R Ja.
KD Der Widerstand ist die Reaktion auf alles, was wir bedrohlich finden: Dies ist
nicht Teil meines Schemas von Dingen. Ich möchte lieber etwas anderes machen; weil ich
glücklicher bin, wenn ich etwas anderes mache; weil dies nicht in mein Bild von dem passt,
was eine lebenswerte Existenz bedeutet. Ich sollte nicht an diesem Ort sein. Ich sollte mit
diesem Menschen keine Zeit verbringen. Ich sollte irgendwo anders sein.
R Der Widerstand akzeptiert nicht, wo ich bin.
KD Andererseits könnte ich sagen: Diese Situation ist perfekt; nichts ist
falsch mit dieser Situation, sie ist einfach da. Und wer auch immer mit mir kommunizieren
möchte – lass uns kommunizieren.
Q Manchmal scheint es, dass es sehr wenig zu kommunizieren gibt, wenig, was man gemeinsam hat.
R Womöglich versuchst du, zuviel zu tun.
Q Wie würde „zuviel“ aussehen?
R Ja gut – du kannst dich nicht gänzlich in den Erfahrungsbereich eines anderen Menschen bewegen, der sich nicht bemüht, mit dir zu kommunizieren. Wenn zum Beispiel jemand an einer bestimmten Konversationsart hängt – sagen wir, sie sprechen sehr viel über sich selbst, und es gibt keinen Raum für dich darin.
Q Und von dort aus könnte man nirgendwo hinkommen?
R Ja gut … das hängt davon ab, wie abenteuerlustig du vielleicht bist. Wenn es sich nicht zu bedrohlich anfühlt, könntest du versuchen, mit ihnen über sie selbst zu reden. Du könntest dich dafür entscheiden, ihr Selbst-Vertieftsein zu füttern, um zu sehen ob sie da aussteigen können.
Q Du stellst ihnen Fragen und beginnst dich zu interessieren?
KD Warum nicht. Jeder ist interessant oder kann unter den richtigen Umständen interessant sein.
Q So… dann… nach einer Weile, wenn es angemessen erscheint, könntest du das Gespräch dahin bringen, über etwas zu reden, was dich selbst betrifft?
R Das könntest du tun… aber nicht als vorgeplante Strategie – sonst bist du in einer Art „Dale-Carnegie-Nummer“.
KD (lacht) „Wie man Freunde gewinnt und Leute beeinflusst“.
Q
(lacht) Wenn die andere Person ständig die Konversation wieder an sich zieht, ist es dann
auch o.k. zu sagen: So, du interessierst dich also nicht besonders für Tennis?
oder,
Du hast kein großes Interesse am Schnorcheln?
KD Ja… das könntest du sagen…
Q Und wenn sie Nein
sagen, und wieder anfangen über ihr Auto zu reden
(unterbrochen)
R … dann könntest du möglicherweise sagen: Es wird dich
vielleicht überraschen, dass ich nicht sonderlich an Autos interessiert bin – ich
hatte
mal eins und das hat einen Gast des Hauses gebissen, und daher bin ich seiner
überdrüssig geworden.
Q
(lacht) Aber was, wenn sie erwidern: Aber du hast mir zuvor eine Menge Fragen über
Autos gestellt!
R
Ja, dann vermute ich, könntest du ehrlich sein und sagen: Ja das war, weil ich mit dir
Ball gespielt habe. Aber du scheinst nicht mit mir Ball spielen zu wollen. Autos können
interessant sein. Ich bin für gewöhnlich nicht an Autos interessiert, aber sie sind
dein Interesse und wir sind hier zusammen. Wir reden gerade miteinander, daher… hab ich
versucht, offen dafür zu sein.
Aber weißt du… diese moralphilosophischen
Szenarien sind sehr heikel, und sie hier zusammen zu erfinden, könnte sich als keine
große Hilfe im realen Leben herausstellen.
KD Die eigene Verpflichtung, freundlich zu sein, ist keine Angelegenheit von unter
allen Umständen freundlich zu sein
. Du kannst nicht bloß eine
Freundlichkeitsmaschine werden.
R Ganz recht, dass ist nicht mal wirklich hilfreich für den anderen Menschen. Es liegt kein Humor darin. Wenn du deinen Humor verlierst, bist du außerhalb des menschlichen Bereichs und eingetaucht in den Bereich der Tiere mit seinem bedrückenden gallertartigen Pragmatismus…
Q (lacht) Ja, du erwähntest die Wichtigkeit des Humors, wenn man in sich hineinschaut. Es ist schwer, den eigenen Widerstand und die eigene Ambivalenz von einem humorvollen Ausgangspunkt her zu sehen.
R Ja – das ist schwer.
KD Aber das Leben ist entweder schwer oder es ist schwer. Du hast immer die Wahl.
Q Na klar… das hätte ich wissen sollen (lacht)
R Wie du siehst, sind unsere Widerstände und unsere Ambivalenzen von Natur aus humorvoll. Es geht darum, offen für diesem Raum des Humors zu sein.
KD Du musst eine humorvolle Sicht deiner selbst fördern. Wir sind alle humorvoll. Wenn du dich mit deinen eigenen Ambivalenzen entspannst, kann das gar nicht anders als humorvoll sein. Darum können Menschen manchmal über sich selbst lachen, wenn sie offen genug sind. Das ist eine ziemlich natürliche und gesunde Reaktion – aber sie wird nur eintreten, wenn du dich mit deiner Ambivalenz entspannst.
R Wenn du dich mit Ambivalenz sehr unbehaglich fühlst, dann kann es keinen Humor geben. Wenn du immer zu lärmend versuchst, dieser Ambivalenz zu entkommen, ist es nicht möglich, den Humor der Tatsache zu erkennen, dass es kein Entkommen gibt. Wir können nur in die Ambivalenz entkommen – nicht aus ihr. Wie du siehst … wir müssen entdecken, dass die Ambivalenz mit Mitgefühl und Freundlichkeit im Zusammenhang steht.
Q Gibt es einen Unterschied zwischen Freundlichkeit und Mitgefühl?
R Freundlichkeit ist das, womit wir beginnen. Mitgefühl bedeutet, in gewissem Sinne, so viel mehr als einfach freundlich zu sein. Mitgefühl bedeutet Freundlichkeit, aber es bedeutet auch Kommunikation – heftige, blühende, fruchtbare Kommunikation. Mitgefühl ist Offenheit gegenüber den unendlichen Mustern und das Verkörpern dieser Muster zum Wohle von allem und jedem überall.
Q Unendliche Muster?
R Absolut. Du kannst nicht wirklich Freundlichkeit gegenüber jemandem empfinden, solange du die Beschaffenheit seiner Muster nicht verstehst und wertschätzt.
Q Wie könnte man sich jemandem nähern, der vielleicht ein Drogenproblem
hat? Es könnte sein, dass man trotz allem keine Sympathie für ihn hat. Wenn ich sagte:
Nimm dich zusammen,
würde das auf der Tatsache basieren, das ich so was nicht tue,
das ich dies nicht mit meinem Leben getan habe; ich würde überhaupt kein
Verständnis für diesen Menschen haben.
R Das stimmt. Es ist sehr schwer, Mitgefühl zu haben, wenn man kein wie auch immer geartetes Verständnis für die Situation von jemand anderem hat.
KD Für den
einen ist das alt werden ein ausgesprochener Horror. Für den anderen ist es das, was eben
geschieht. Für den einen ist kein Geld zu haben scheußlich, während ein anderer
sagen könnte: Ja gut, ich hab genug, um davon zu leben, damit bin ich
glücklich.
Alles ist genau so, wie du es siehst. Wenn Apprentices uns erzählen,
sie könnten das Leid eines anderen nicht verstehen, weisen wir immer darauf hin, dass das
daran liegt, dass sie die Mentalität dieses Menschen nicht verstehen. Man sollte die
Geistesverfassung eines anderen Menschen verstehen, um antworten zu können: Ja, du musst
das als wirklich schwer empfunden haben.
R Wir können einfühlend
mit jemand sein, der nicht in der Lage ist, sich neue Kleidung zu kaufen, obwohl er Unmengen
davon hat. Wir können sagen: Du musst das als sehr schmerzlich empfinden, nicht in der
Lage zu sein, neue Kleidung zu kaufen.
Wenn dies das Wahrnehmungsmuster ist und wenn man
frustriert ist innerhalb seines Wahrnehmungsmusters – dann leidet man. Das ist ganz
einfach zu
verstehen. Es ist nicht so, dass damit alles in Ordnung ist und ein abgelatschter Schuh eines
Menschen dem schmerzlichen Verlust eines anderen entspricht – daher würden wir die
Aufmerksamkeit der Menschen auch auf die Relativität ihrer Situation lenken. Wir
könnten zugespitzt sagen: Ja… traurig, keine neue Kleidung kaufen zu können, aber
dein Schrank quillt über mit Klamotten. Hab ich dir schon mal erzählt, dass, als ich
als junger Mann in Indien war, die Ratten mir den Schritt aus meiner Angra (ind. Hose) gefressen
haben?
Q (lacht) Das relativiert natürlich alles, aber würdest du immer die Tatsache, dass sie ihre Garderobe nicht erweitern können, als echtes Leid würdigen.
R Sicher.
KD
Weil das schlimmste Leiden eines Menschen das schlimmste Leiden ist. Das ist relativ. Ich glaube
dies ist wichtig: Das Schlimmste in deinem Leben war das Schlimmste, was du erlebt hast. Es mit
etwas aus dem Leben eines anderen zu vergleichen, das schlimmer ist, ist sowohl nützlich
als auch nutzlos. Es ist nutzlos, weil zu grausam gegen sich zu sein bedeutet, dass das
Mitgefühl fehlt. Man kann nicht einfach sein größtes Leid unterminieren, indem
man sagt: das ist nicht schrecklich, weil es woanders Menschen gibt, die sich zu Tode
hungern! Ich kann meine Situation nicht mal erwähnen, wenn ich daran denke!
Das ist
eine Aussage, die auf einer Ebene bedeutungslos ist aber auf einer anderen Bedeutung hat. Wenn
man aufgrund der Relativität überhaupt nicht leiden darf, würde man sich selbst
zerdrücken. Auf der anderen Seite zu sagen: Ich habe meinen Schuh abgelatscht! Das ist
das Ende der Welt!
, ist auch nicht nützlich. Keiner der Zugänge funktioniert. Man
muss beide im Sinn behalten.
Q Das ist das Schlimmste, was mir je passiert ist, aber dann auch wieder, es gibt
schlimmere Situationen in der Welt.
KD Es geht darum, die beiden Dinge gleichzeitig zu sehen – wieder eine Ambivalenz.
Q Ist es eine personale/transpersonale Balance, die man finden muss?
R Nein. Keine Balance (lacht). Bei „Balance“ geht es um Bequemlichkeit – eine Art Versicherung dafür zu suchen, dass einem die Dinge nicht aus der Hand gleiten. Wenn du in der Lage wärst, eine illusorische Balance zu finden, würdest du herausfinden, dass sie leer ist.
Q Wenn wir uns also in jemandes Gesellschaft befinden, mit dem es schwierig ist, zusammen zu sein, so dass wir dem entkommen möchten … Oder wenn wir bemerken, dass wir nicht wirklich mit jemandem kommunizieren … dann liegt das teilweise daran, dass wir uns nicht wirklich angesehen haben, was Leiden in deren Welt, deren Muster bedeutet?
NR Ja. Das ist der Grund, warum wir zu unseren Apprentices sagen, was auch immer sie für Schwierigkeiten haben mögen, miteinander umzugehen, sie sich erinnern sollen, dass ich mit ihnen allen auskomme. Ich mag alle und ich muss mich auf alle als unterschiedliche menschliche Wesen beziehen, was bedeutet, dass ich mit allen unterschiedlich umgehe. Ich tendiere dazu, mich auf ihre Mentalität einzustellen, im Hinblick darauf, was sie zum Lachen bringt, was sie amüsiert oder wie sie Dinge sehen.
Q Und es geht nur dadurch, dass man tatsächlich Mitgefühl und Kommunikation mit ihnen erfährt?
NR Ja. Schau mal, andernfalls wird Mitgefühl zu einem Willensakt: „Ich werde freundlich und gut sein, weil es das ist, was ich zu sein habe“. Es ist tatsächlich so, wenn du jemanden verstehst, dann magst du ihn auch. Wenn du ihn nicht verstehst… ich glaube, es ist möglich jemanden zu mögen, den man nicht versteht – entweder man schafft es oder eben nicht.
Q Rinpoche, du hast davor im Zusammenhang mit Mitgefühl das Konzept des „Verschiebens der Erfahrungsnormen“ erwähnt. Würdest du erklären, wie das funktioniert?
R Das geht aus einer Diskussion über die Wichtigkeit von Mitgefühl und Motivation hervor. Deine Motivation ist das, was dich in eine bestimmte Richtung treibt oder wirft. Was auch immer deine Motivation ist, du beginnst damit eine Richtlinie für dich selber aufzustellen, eine Bahn, die irgendwo hinführt. Wenn du zum Beispiel beginnst zu trainieren, wirst du fitter; je mehr du trainierst, desto fitter wirst du. Je fitter du wirst, desto mehr Konzepte hast du darüber. Vielleicht beginnst mit dem Gedanken, „Ich möchte nur ein bisschen Gewicht verlieren“. Du verlierst Gewicht, du hast trainiert und Diät gehalten, um das zu erreichen, dann schaust du dich an und denkst, „Oh! Ich sehe ganz interessant aus, schau mal diesen Muskel dort. Ich könnte eventuell ein paar Gewichte anschaffen; ich könnte da ein bisschen mehr draus machen“. Jetzt existiert aber diese neue Erwägung an diesem Punkt nur, weil du all das getan hast, was du getan hast. Am Anfang ist dies nie deine Idee gewesen, „Ja gut, ich werde jetzt dieses Gewicht verlieren und ich werde diesen toll aussehenden Körper dabei herausbekommen“. Du kannst sehen, was mit einigen Menschen geschieht, die dieser Linie folgen. Sie werden mehr und mehr besessen und so verbringen sie große Teile ihrer Tage damit, das zu tun. Sie beginnen dann sorgfältig auf ihre Diät zu achten, sie kaufen bestimmte Produkte. Es handelt sich darum, eine Reihe zu bilden, bei der jeder Schritt entlang des Weges den nächsten möglich macht. Wie beim Spazieren gehen: jeder Schritt, den du machst, macht den nächsten Schritt möglich. Im Sinne einer sich verschiebenden experimentellen Norm, wo auch immer du in einem Moment bist, umgibt dich ein Kreis von experimentellen Möglichkeiten. Das ist kein besonders scharf abgegrenzter Kreis; es ist ein wollweicher Kreis; ein verschwommener Kreis. Wenn du dir vorstellen kannst, dass du dich innerhalb eines Kreises dessen befindest, was für dich normal und möglich ist – kannst du innerhalb dieses Kreises schlechter Laune sein, du kannst glücklich sein, du kannst freundlich zu anderen Menschen sein, du kannst unfreundlich zu anderen sein. Du hast das ganze Spektrum, die Parameter dessen, was du tust. Du weißt, andere Menschen werden andere Dinge tun, Dinge die du nicht tust, weil du sie für unmoralisch, zu gefährlich, oder langweilig hältst, oder welche Kategorie das auch immer ist, die da außerhalb deines Kreises liegt. An jedem Punkt des Umkreises deiner Kreisfläche liegt ein Eingang zu einem dieser anderen Gebiete; und es ist Teil der Norm deines Kreises, bis zu seinen Grenzen zu gehen und gelegentlich kurz darüber hinaus zu schauen. Oder deine Lebensumstände tun das für dich; sie bringen dich an die Grenzlinie deines Kreises; und du hast vielleicht eine Gelegenheit, sie zu überschreiten. Menschen tun das, es ist normal Grenzen zu überschreiten. Das liegt daran, dass die Grenzlinie deines Kreises amorph ist. Es ist keine sehr scharf gezogene Grenze, so kannst du dich außerhalb deines Kreises wiederfinden. Du hast dich hinausbewegt. Dann kannst du erschrecken und in den Kreis zurückrennen, oder du kannst sagen, „Ja gut, das ist interessant hier!“
Wenn du dich nach draußen bewegst und du findest das interessant, dann wird etwas außerhalb deines Kreises oder Bezugssystems normal. Wenn etwas Neues normal wird, dient es als Bezugspunkt im Sinne deiner Realität; dann verschiebt sich deine experimentelle Norm, so dass sie diesen Bezugspunkt einschließt. Es wird normal, auch wenn es vorher gar nicht normal war; es bleibt keine unnormale Betätigung, die du ausführst. Von dieser Position aus kann etwas anderes zu einer Betätigung werden, die du unternimmst und die nicht ganz normal ist, aber du wirst sie trotzdem ausführen, weil das jetzt eine Möglichkeit geworden ist. Diese nächste Möglichkeit wäre von der Normalität ein paar Schritte davor unmöglich in Erwägung zu ziehen gewesen, weil deine Norm sich inzwischen verschoben hat. Stell dir dies als Kreis mit einem Zentrum vor. Wenn du fortlaufend Bewegungslinien ziehst, kannst du sehen, in welche Richtung du gehst. Du kannst überall landen. Darum ist es erschreckend, Menschen von Hitler als eine Art „Monster“, oder „bösem“ Menschen reden zu hören: „Ich bin nicht wie Hitler, ich könnte nicht wie Hitler sein, Hitler ist ein böser Mensch“. Wenn wir fragen, „So, du glaubst, du könntest nie wie Hitler sein?“ sagen sie, „absolut nicht“. Ich antworte dann, „Das ist wirklich erschreckend, dass du das sagen kannst“. Was erschreckend ist, ist, dass er (Hitler) dann in einer anderen Kategorie von Wesen existiert. Das ist das, was so beängstigend an der Gott-und-Teufel Idee ist. Die Idee des Bösen ist gefährlich, weil es böse Menschen „verschieden“ (von uns) macht: so dass „Ich nicht böse werden könnte“. Ich denke, das ist gefährlich, weil alles, was dazu erforderlich ist, die entsprechenden Umstände sind.
Q … und sich selbst ein bisschen weiter jenseits des Kreises zu schieben…
R Zum böse sein, oder was böse genannt wird, gelangt man Schritt für Schritt und durch Umstände, die dir erlauben Schritte zu tun. Was Menschen annehmen lässt, dass sie niemals böse werden können, ist die Tatsache, dass sie in ihrem gegenwärtigen Geisteszustand nicht das Konzept hegen könnten, Hitler zu sein. Vielleicht hätte Göbbels das in Betracht ziehen können (Gelächter), der war dichter dran. Je weiter du dich von diesem Geisteszustand weg bewegst, desto weniger könntest du so sein, oder desto weniger könntest du dir vorstellen, so zu sein. Aber, alles was man tun muss, ist anzufangen in diese Richtung zu gehen. Während man noch eine Straße hinunter geht, kann man nicht bereits am Ende angelangt sein. Nur wenn man Schritt für Schritt geht – und was diesen Schritt möglich macht, ist, dass man jenen schon getan hat. Das ist genau dasselbe wie mit der eigenen Erfahrung. Das ist der Grund, warum es so wichtig ist, eine im Mitgefühl wurzelnde Motivation zu haben; wenn man das nicht hat, kann man irgendwo landen – eigentlich überall. Das ist die einzige Motivation, die sicherstellt, dass du Befreiung erlangst. Ohne im Mitgefühl gründender Motivation gehst du entweder im Kreis oder du landest in einer beliebigen Situation und bist eine Art Monster geworden. In uns allen steckt die Möglichkeit dorthin abzutreiben, wo bestimmte Dinge normal werden; und was immer normal ist, ist gerechtfertigt.
Q Du hast davor von Mitgefühl als Kommunikation gesprochen… Ist die Motivation, wirklich und wahrhaftig mit Menschen zu sein und mit ihnen zu kommunizieren, dieselbe Motivation, auf die du dich jetzt beziehst.
R Ja. Man sollte auch Mitgefühl für Hitler, für Stalin, für Mussolini, für wen auch immer haben. Man sollte auch deren sehr schreckliche Situation verstehen. Wenn man anfängt, solche Menschen zu hassen, ist das ein wirkliches Problem.
Q Kann man das Konzept der Verschiebung experimenteller Normen dazu nutzen, dass man die eigene Bewegung in die Richtung, in die man gehen möchte, damit unterstützt? … Sagen wir in Richtung Mitgefühl, oder …
R Gewiss. Was auch immer du tust, sollte normal werden. Freundlich sein sollte das sein, was du normalerweise tust; dann kannst du freundlicher werden. Du kannst nicht über Nacht ein Heiliger werden – dazu braucht man schon ein paar Jahre! (lacht) Es ist nur eine Frage davon, sich in diese Richtung zu bewegen. Mutter Theresa ist nicht über Nacht so geworden; das ist ein schrittweiser Vorgang. Das ist das Gleiche wie mit der Tatsache, dass das, was normal ist, erst mal normal ist; dann aber gibt dir das, was immer auch normal ist, die Gelegenheit dich weiter in etwas hinein zu bewegen, wo du hinmöchtest. Das kann eine perverse Richtung sein, oder es kann eine sehr aufregende Richtung sein, es kann jede beliebige Richtung sein. Aber ehe man sich in alle Richtungen verstreut, hat man besser Mitgefühl als Richtung (Ausrichtung). Dann ist alles, was geschieht, im Mitgefühl eingeschlossen – ob man nun Künstler oder Musiker oder was auch immer ist.
Q Um zum Ausgangspunkt zurück zu kommen: Wenn man in einer Situation ist, in der man sich richtig unbehaglich fühlt mit dem Menschen, der gerade vor einem steht, wenn man den langweilig oder unakzeptabel oder was auch immer findet und man sagt dann: „Ich möchte wirklich wissen, warum ich mich so unbehaglich fühle“…
R … und wenn du diese Handlungsweise fortsetzt, wird das normal für dich. Wohingegen, wenn du dich von diesem Menschen abschneidest und du denkst, „Ja gut, ich bin froh, dass ich das getan hab. Dieser Mensch ist mir ziemlich auf die Nerven gegangen“, dann wird das normal und es wird O.K. für dich, das zu tun. Durch dein Handeln und deine Reaktionen erschaffst du deinen Geisteszustand. Es geht also um die Frage, ob man sich ständig dessen bewusst ist und fragt, „Ist es das, was ich sein möchte? Ist es das, was ich werden möchte?“
Q Ich habe mich gefragt, ist die Visualisationspraxis im Tantra eine Kurzfassung dessen, was du gerade beschrieben hast, dass anstatt Schritt für Schritt zu arbeiten – das Muster zu sehen, die Entwicklung, die man verfolgt – identifiziert man sich mit einem weiter entfernt auf dem Wege liegenden Ziel.
R Ja.
Q Und das funktioniert?
R Letztendlich, ja. Ich glaube das ist etwas, was die Menschen beim Tantra nicht so richtig verstehen – diesen ganzen Prozess dessen was ich als „den Visions-Körper tragen“ beschreibe. Du möchtest dich zum Beispiel besser mir dir fühlen, deswegen kaufst du dir neue Kleidung und du ziehst sie an. Wenn du das, was du trägst, toll findest, fühlst du dich besser mit dir – das ist eine Art Prozess. Wenn du dir in diesem Zusammenhang die Visualisation anschaust, kannst du sagen, dass du den Körper von Yeshé Tsogyel oder Padmasambhava „trägst“. Dann hast du im Sinne davon, wie du dich mit der Welt fühlst, in der du lebst, die Gelegenheit, wenigstens momentan, dich in bestimmter Weise darauf zu beziehen – wie etwa Mitgefühl für alle Wesen zu haben. Du „probierst aus“ wie das ist, dadurch, dass du Yeshé Tsogyel wirst. Dann hast du ein neues Gefühl von Dir selbst – das heißt, dass du nicht begrenzt sein musst, dass du nicht eingeschränkt durch irgendein Selbst-Konzept sein musst.
Q Bedarf es in der Folge außerdem noch der schrittweisen Verschiebung der eigenen experimentellen Normen?
R Ja. Beides geht Hand in Hand. Um eine Art Analogie zu benutzen: Wenn man sehen möchte, wohin man geht, kann man gelegentlich auf einen Baum klettern und ein bisschen weiter sehen; aber dann muss man wieder hinabsteigen und weitergehen. Vielleicht ist der Blick von der Spitze des Baumes inspirierend und man sagt, „Ja, ich kann das Meer sehen von hier aus, und es ist wundervoll. Ich kann sogar den leichten Wind hier in der Baumkrone spüren“. Dann bist du wieder unten und gehst weiter. Es ist immer beides, letztendlich und relativ, die Fähigkeit, in Yeshé Tsogyel oder Padmasambhava zu schlüpfen. Es ist eine Praxis. Eine Praxis, die auf der Ebene der Visualisation existiert. Es gibt sie auch auf der Ebene des Vajra-Stolz im täglichen Leben, das tägliche Leben als Yeshé Tsogyel oder Padmasambhava anzugehen. Das ist nicht sehr verschieden von dem Konzept ein guter was auch immer zu sein. War es nicht McCarthy, der dieses Ding mit dem „unamerikanischen Verhalten“ hatte?
Q Ja.
R Es gab da offensichtlich eine Auffassung davon, was „amerikanisches Verhalten“ war, und was nicht. Wenn du ein guter Amerikaner sein wolltest, wusstest du wie der „Handel“ aussah: Es gab Dinge, die tat man, und Dinge, die man unter keinen Umständen tat. Nun, wenn du Yeshé Tsogyel bist, dann gibt es auch eine Kommission für Un-Yeshé Tsogyel Verhalten (lacht), der du rechenschaftspflichtig bist. Höhnisch oder kriecherisch zu sein ist ein Un-Yeshé Tsogyel Verhalten. Du bist dir dessen bewusst und du denkst, „Ja tatsächlich, in meiner wahren Natur bin ich nicht verschieden von Yeshé Tsogyel“. Dann hast du wieder diese Ambivalenz darüber, Yeshé Tsogyel zu sein und nicht Yeshé Tsogyel zu sein, und du lässt das in Beziehung zueinander treten. Noch hältst du das Konzept „eigentlich bin ich Yeshé Tsogyel – ich vergesse das nur von Zeit zu Zeit und ich möchte jemand die Nase brechen, oder seine Brieftasche klauen … “ oder was immer das ist, was du gerade tun möchtest.
Q Aber Rinpoche, anstatt das zu tun, sage ich oft, „das war vermessen, mich mit Yeshé Tsogyel zu identifizieren! Hier handle ich schon wieder in dieser abfälligen Art und Weise. Das war nur eine Vortäuschung, das kann nicht wirklich gewesen sein.’ Es ist eher so, als dass ich sage, „Ah ja, aber meine grundlegende Natur ist die von Yeshé Tsogyel“.
R Das ist eine sehr komplizierte Art sich das anzuschauen; ich würde sagen, du musst damit nicht so kompliziert umgehen. Schuld muss da nicht einfließen. Du kannst sagen, „Ah. Hmm, ja gut, es ist nicht Yeshé Tsogyel, die ich gerade bin. Ich kann dahin zurückkehren“. Es ist nicht so, „dass der andere Moment nicht wirklich war. Ich bin wirklich ein Stück Dreck und ich hatte gerade die Vermessenheit zu denken, dass ich kein Stück Dreck wäre!“ (Gelächter) Das ist gar nicht hilfreich – das ist wirklich nicht hilfreich.
Q Ist es so, dass Zuversicht oder Glauben nötig sind, um das andere aufrecht zu erhalten?
R Ja. Man muss dieses Vertrauen entwickeln. Das Vertrauen kommt aus der Erfahrung der Leerheit. Wenn du dich aus dieser Erfahrung der Leerheit tatsächlich als Yeshé Tsogyel erhebst, dann hast du wirklich an diesem Punkt die Erfahrung, Yeshé Tsogyel zu sein. Dann kannst du dich in deinem täglichen Leben darauf als auf eine innere Erfahrung rückbeziehen. Auf einer gewissen Praxisebene musst du nur entscheiden, dass das so ist, wie es ist.
Q Und auf anderen Praxisebenen?
R Ja. Wenn du Leerheit noch nicht realisiert hast, musst du auf der Ebene von
Hingabe arbeiten, dann sagst du: Ja gut, ich habe mich dafür entschieden, dass das so
ist, wie es ist – weil, wie sieht die Alternative aus?
Q Ich bin Schmutz.
R Genau. (lacht) Warum ist mir diese Tatsache so lange verborgen geblieben? (lacht). Wie du siehst… Es ist eine Wahl, die man hier trifft.
Q Rinpoche, könntest du ein bisschen mehr darüber sagen, wie Hingabe im Zusammenhang mit dem Treffen dieser Entscheidung steht.
R Ja gut … es ist wirklich nicht sehr, sehr, sehr verschieden von einer übertragenen Bedeutung von … darf ich wagen es auszusprechen? „Glauben zu haben“. Aber es ist mehr eine Wahl, die auf Erfahrung beruht. Hingabe ist tatsächlich der gesamte Bereich interaktiver Möglichkeiten. Hingabe muss auf etwas gegründet sein – und dieses Etwas ist das eigene Erfahrungswissen vom Lama und den Belehrungen. Wenn dieses Verständnis von Hingabe vorhanden ist, ist es höchst aufgeklärt. Es ist keine dumpfe Devotion. Es ist nicht das „Gopi“-Ideal (unterbrochen).
Q … diese Hindu Sache, „going gozzy“ (gaga) iu der Gegenwart des Meisters zu werden?
R Ja gut, ich weiß nicht genau, wie das auf den Hinduismus mit all seinen verschiedenen Formen angewendet werden kann – aber, ja. Hingabe, so wie davon im Vajrayana Buddhismus gesprochen wird, ist keine nicht-intellektuelle Haltung. Man muss wirklich seine Beziehung zum Lama hinsichtlich Studium und Praxis untersuchen, bevor die eigene Hingabe authentisch genannt werden kann. Andernfalls fühlt man sich immer schuldig dafür, dass man nicht genug Hingabe hat. Wenn man wirklich Hingabe hat, ist das keine große Sache. Wenn du also Hingabe hast, dann kannst du Entscheidungen über dein Leben auf der Grundlage dieser Hingabe treffen. Das wird dein Maßstab. Es wird der Gesichtspunkt, unter dem alles andere beurteilt wird. Wenn dieses Prinzip erst mal eingesetzt ist, rückt alles in deinem Leben auf natürliche Weise an seinen Platz. Nicht, dass alles leicht wird (lacht), die Dinge können zuweilen ziemlich schwer sein – aber alles wird einfach. Sogar Komplexität wird einfach, weil man kein komplexes „Ding“ daraus machen muss. Alles ist einfach da, wo es ist. Wir sehen alles als Teil unserer Landschaft, und wir treffen Entscheidungen darüber, wie wir durch diese Landschaft reisen.
KD Also, im Hinblick darauf, wie du dich siehst – kannst du sagen: Wie sehe
ich
mich eigentlich? Sehe ich mich so, wie ich mich gewöhnlich sehe – oder sehe ich mich
so,
wie mein Lama mich sieht?
R Tatsächlich spielt es auf einer Ebene keine große Rolle, ob das dann zutrifft oder nicht. Es ist letztendlich eine Wahl darüber, was du mit deinem Leben machen willst: ob du dich in die eine Option einkaufen willst, oder du kaufst dich in die andere ein – besonders auf der Ebene des Tantra.
KD Du kannst entweder sagen: Ich möchte erst mal nicht visualisieren oder mit
diesem Prinzip arbeiten, bevor ich Leerheit realisiert habe.
Oder du kannst sagen: Ich
habe so viel Vertrauen in diese Lehre, dass ich das tun kann. Ich möchte diesen Sprung
tun.
Du kannst sagen: Ich möchte dies wirklich als Grundlage nutzen.
Es
funktioniert nicht zu sagen: Wenn ich wirklich glaube, werde ich gerettet werden!
Das
kann man nicht anwenden. Was anwendbar ist, ist in eine Sicht einzutreten und so zu handeln, als
sei diese Sicht wahr. Keith Dowman macht eine Bemerkung darüber in der Einführung zu
seinem Kommentar zu Sky Dancer. Er sagt:
während dieser Periode des sich
Vertiefens in Tantra, sollte man sich seine Terminologie, seine Prämissen und seine
Konzepte zu Herzen nehmen. In diesem semantischen Spiel der Erleuchtung ist es vorteilhaft erst
Bedeutungen zu klären und dann an tantrische Formeln heranzugehen als repräsentierten
sie absolute Wahrheiten. Man findet wenig Freude bei der bloßen intellektuellen
Beschäftigung mit vergleichenden meta-psychologischen Systemen, aber sehr viel kann
gewonnen werden, wenn man den Geist in einer sublimen Vision badet …
Es geht wirklich darum, keine Zeit für die andere Sicht zu haben. Ich denke du musst in der
Lage sein zu sagen: Ich hab hier gar keine Wahl. Ich kann mich entweder als Schmutz sehen,
oder ich kann mich selbst als Yeshé Tsogyel sehen.
Welchen Vorteil hat es, mich als
Schmutz zu sehen?
Q Ich vermute, dass Schmutz dort bleibt wo er ist, darin liegt keine Mühe, es muss also entspannend sein.
R Ja… aber es ist auch Folter – weil man nicht wirklich ein Stück Dreck sein will – niemand möchte das.
KD Buddhismus kriegt dich auf beide Weisen (lacht). Die unerleuchtete Perspektive
ist eine, die versucht Bequemlichkeit herzustellen, aber das ist nicht wirklich bequem. Wenn man
das umkehrt und sagt: lasst uns nicht nach Bequemlichkeit streben.
Dann wird es sofort
bequemer (angenehmer).
Q ?
KD Es ist nicht so geheimnisvoll, wie es sich anhört.
R Wir
könne die Analogie des Trainierens benutzen. Ich könnte sagen: Das ist wirklich
eine Qual, all diese Übungen auszuführen. Das will ich nicht machen, das ist
unangenehm.
Aber dann wird der Rest meines Tages angenehm. Wenn wir nun aber nicht üben
– das ist viel angenehmer. Aber was dann geschieht, ist, dass das Ich größer
und
größer wird. Eine wirkliche Reise in die Unermesslichkeit (lacht). Dann wird mein
Leben unbequem. Es ist also entweder unbequem oder unbequem. Ich kann nicht tatsächlich
Bequemlichkeit dadurch erlangen, dass ich versuche alles bequem zu machen. Das geht nicht; es
funktioniert überhaupt nicht.
KD Der einzige Unterschied ist der, ob du die Führung hast oder nicht, ob du die Hände am Steuer hast. Genau das macht den Unterschied.
Q Wenn du in einer Situation bist, in der du Ambivalenz oder Widerstand erfährst… du sagtest davor, dass man diese Ambivalenz humorvoll betrachten sollte… Gibt es diese humorvolle Qualität, weil man essentiell weiß, dass man Yeshé Tsogyel oder Padmasambhava ist? So dass es Vertrauen darin gibt, dass der Widerstand nicht alles ist.
KD Ja. Das ist äußerst wichtig. Der Hauptpunkt ist der, zu diesem Verständnis zu kommen. Dann wirst du auch freundlich zu dir sein – weil du deine Situation begreifst: mit ihren Ambivalenzen; mit ihrem Wunsch wie dies zu sein, aber das noch nicht tun zu wollen. und „das“ ist das nämliche Ding, das „dies’ untergräbt.
R (singt) „The very thing that, makes you rich, makes me poor“. (Genau das, was dich reich macht, macht mich arm.)
KD
(lacht) Wenn du damit entspannt sein kannst, dann kannst du sagen: Ich bin also hier…
ich möchte dies tun, tue aber noch das.
R Wenn du damit entspannt sein kannst, sollte es amüsant sein; was dich dann befreit, tatsächlich eher so wie dies zu sein, als das zu tun.
KD Es gibt auch die Freiheit auszurutschen. Das muss nicht unbedingt ein Fall sein
von: Oh nein! Jetzt habe ich alles verpatzt. Ich bin ausgerutscht.
R Du kannst sagen: Oh, ja gut … ich vermute, meine Ambivalenz ist in eine
Richtung gekippt, die nicht meinem spirituellen Ziel entspricht.
Das betrifft das Einhalten
von Diäten wie auch Alkoholismus und Drogenmissbrauch. Es gibt da immer den Standpunkt:
Na gut, den heutigen Tag hab ich verpatzt, dann kann ich jetzt auch richtig die Sau raus
lassen!
Ich mach den Rest des Tages richtig einen drauf und morgen werde ich wieder
weitermachen. Der Gedanke, alles verpatzt zu haben und zu sagen: Na gut, ich hab es jetzt
getan – dann könnte ich jetzt auch genauso gut ganze Arbeit leisten
, ist eine
perfekte
Falle. Das kommt eher daher, dass man sich als entweder „gut“ oder
„böse“ ansieht, als daher, in der Ambivalenz zu bleiben und zu sagen:
So … jetzt hab ich mit beim Frühstück den Bauch vollgeschlagen – aber
das
heißt nicht, dass ich den ganzen Tag weiter machen muss.
Du kannst sagen: schauen
wir uns gerade mal dieses Verlangen an. Amüsieren wir uns ein wenig darüber.
Man
muss dieses Verlangen nicht verurteilen – man kann von der ganzen Situation belustigt
sein. Man
kann etwas Vertrauen in die gesamte Situation haben.
KD Du kannst darauf vertrauen, dass du nicht tatsächlich außer Kontrolle bist. Du kannst wahrnehmen, dass unter Kontrolle sein nichts mit Bestrafung zu tun hat. Sich unter Kontrolle haben kann heißen, dass du nicht immer kontrolliert bist aber wenn du außer Kontrolle bist, kannst du jederzeit wieder die Kontrolle übernehmen.
Q Vajra-Stolz erlaubt also sich zu entspannen? Und das bedeutet, dass er Ausrutscher erlaubt?
KD Ja, weil Yeshé Tsogyel Ausrutscher nicht verurteilt; Yeshé Tsogyel weiß, warum Menschen ausrutschen.
R
Andernfalls bist du immer in diesem „guter Mensch / schlechter Mensch“ –
Ding, wo
ich sage: Oh, ich handle jetzt so gut. Ich bin ein guter Mensch. Ich esse nicht wie ein
Alptraum-Mastschwein. Ich klebe an meiner Diät. Ich „mache“ meine Mantras. Ich
ziehe meine „guter Junge“ oder „gutes Mädchen“ Nummer ab. Ich
„tue“ was auch immer „von mir verlangt“ wird.
Aber dann schlägt
das um und ich sage: Jetzt bin ich ein schlechter Mensch! Ich tue nichts, was gut für
mich ist. Alle fühlenden Wesen können zur Hölle gehen. Ich bin ein wirklich
schlechter, schlechter, schlechter Mensch – Ich esse sogar das Eis aus dem Eisfach, und
die
Katzenstreu, so verdammt schlecht bin ich. Ich fresse alles und dann kotze ich alles wieder
aus!
KD Wenn du also ein „schlechter Mensch“ bist und du hast dieses
„schlechter Mensch Konzept“, kannst du diesem „ein schlechter Mensch
sein“ total freien Lauf lassen oder dem ein „unwürdiger Mensch“ zu sein
oder was auch immer. Aber du möchtest wirklich ein guter Mensch sein,, also sagst du:
Morgen werde ich „ein guter Mensch“ sein, und ich werde zutiefst bedauern, der
„schlechte Mensch“ gewesen zu sein, der ich gestern war.
Aber
unglücklicherweise funktioniert diese Dichotomie nie – du oszillierst nur zwischen
ihnen.
Wenn du ein „guter Mensch“ bist, hast du kein Verständnis von dem
„schlechten Menschen“. Wenn du ein „schlechter Mensch bist“, kannst du
dich dem geradezu hingeben. Aber sogar während du das tust, fühlst du dich schuldig
deswegen; du genießt das nicht wirklich. Wenn du ein „guter Mensch“ bist, bist
du befriedigt darüber, aber dann geht damit ein Gefühl von Bestrafung und
Angespanntsein einher – weil du dir dessen bewusst bist, das es so fragil ist. Was so viel
wichtiger ist, ist sich der Ambivalenz zuzuwenden.
Q Wir scheinen so zufrieden mit gut und böse. Liegt das daran, dass wir Ambivalenz vermeiden.
KD Ja, das ist sehr wahrscheinlich. Das ist der Grund dafür, dass Menschen
gerne Schuld empfinden. Das bringt sie in die Lage zu sagen: Ich bin schuldig. Ich bin ein
schlechter Mensch, deswegen weiß ich, wer ich bin – was bedeutet: ich bin
beruhigt.
Es ist beruhigend, weil Ich weiß, dass ich ein schlechter Mensch bin. Ich
bin ein Versager.
Ich habe diese Definition, und die fühlt sich stabil an. Aber was,
wenn du das jetzt nicht tust? Wie wäre es zu sagen: Ich fühle mich schlecht, aber
vielleicht bin ich auch ein guter Mensch. Vielleicht wechselt sich das ab. Könnte
möglich sein, dass ich ein großer Mensch werde?
Nicht-Wissen ist nicht nur
negativ. Vieles ist möglich … aber das ist nichts, worauf man irgendetwas neurotisch
Beruhigendes gründen könnte. Ein Gefühl von Positivität ins Bild zu lassen
könnte irgendwie beunruhigend sein; weil: Wenn es die Möglichkeit gibt, dass ich
ein großer Mensch werden kann … was tue ich denn dafür? Könnte ich
dafür etwas tun? Können Dinge sich verändern? Was ist für mich nötig zu
tun. Und was, wenn ich versage?
Q Wenn man sagt: Ich bin ein guter Mensch, ich hatte es gerade vergessen
, ist das
nicht eher ein Wissen als ein Nicht-Wissen?
KD Ja. Aber diese Art von Überzeugung zu haben, entwickelt sich durch die Praxis.
R Und das Wissen ist nur wirklich gerechtfertigt durch das Nicht-Wissen, das dem Wissen vorausgegangen ist, als der Raum, in dem du dich erinnern kannst, dass du vergessen hattest.
KD (lacht) Von dieser Position aus kannst du Unfreundlichkeit als einen
Verteidigungsmechanismus sehen. Du kannst sagen. Ich muss dies nicht wirklich tun; ich muss
hier kein „schlechter Mensch“ sein, ich muss kein unfreundlicher Mensch sein; ich
muss hier keinen Gewinn machen; ich muss auf diesem Weg nicht weiter fortschreiten; ich muss
nicht unangenehm sein.
Oder vielleicht: Ich muss jetzt unangenehm sein.
Und dann
musst du dich zu dem Grad des Schmerzes bekennen, der die Empörung verursacht. Dann musst
du in der Lage sein sagen zu können: Das ist die Situation, in der ich mich befinde. Ich
fühle mich hier in der Falle. Ich fühle die Notwendigkeit aggressiv zu sein.
R Du musst dich deinem eigenen Niveau der Angst zuwenden, und das wird Mitgefühl genannt – einfach mit dem sein, was da ist. Das ganze Gewebe dessen, was du fühlst zu akzeptieren, ohne es ausagieren zu müssen oder um sich zu schlagen in einem irgendwie primitiven Versuch dich selbst schützen zu müssen. Wir müssen dem Gewebe dessen, was geschieht, vertrauen und uns mit den reißenden Fluten dessen, was wir fühlen, entspannen. Wenn es etwas Raum gibt, dann wird das möglich. Es ist ein harter Ritt, aber wenn wir „diesen Ritt“ verweigern. dann werden wir geritten … und die Sporen dringen tief ins Fleisch!
Q (lacht) Vielen Dank, Khandro Déchen, Rinpoche – das war sehr hilfreich.
KD Danke für dein Interesse.
R Es hat Spaß gemacht. Danke.