Das Herzjuwel des Glücklichen

Persönlicher Rat zum Dzogchen

von Kyabjé Düd’jom Rinpoche Jig’drèl Yeshé Dorje

Es gibt nichts in Samsara und Nirvana, das nicht von non-dualem Gewahrsein umarmt wird. Von Anfangslosigkeit an ist non-duales Gewahrsein immer-präsent. Es ist ungeboren in uns, aber grundlegend jenseits der Bereiche von Referentialität, Mühe und Vorstellung.

Würdigende Lobpreisung meines Lama.

Dzogchen betreffend sagte Padmasambhava:
Untersuche nicht die Erscheinungen – untersuche die Natur des Geistes. Wenn erst die Natur des Geistes erkannt ist, wird man das Eine erkennen, wodurch alles selbstbefreit ist. Gelingt es nicht die Natur des Geistes zu finden, könnte man alles erkennen, aber man wird nichts wissen.

Um mit der Meditation über die Natur des Geistes zu beginnen, sitze mit aufrechtem Körper, natürlich ein- und ausatmend. Starre in den Raum, wobei die Augenlider weder schläfrig nach unten fallen noch unnatürlich weit aufgerissen werden. Betrachte das Gesicht von Küntuzangpo mit Gewahrsein und im Wissen, dass alle Wesen einmal die eigene Mutter gewesen sind. Indem die Präsenz des eigenen Tsawa’i Lama – als untrennbar von Padmasambhava – angerufen wird, verschmilzt man den Geist und ruht in meditativem Gleichgewicht.

Einmal zur Ruhe gekommen kann es sein, dass man nicht lange im Gewahrsein verbleibt. Konzeptueller Geist kann sich zu bewegen beginnen und man könnte aufgeregt werden. Der konzeptuelle Geist könnte zappeln; wie ein Affe herumtollen – hier, da und überall. Was wir an diesem Punkt erfahren, ist nicht die Natur des Geistes , sondern bloß das, was in der Natur des Geistes erscheint. Wenn man dem, was in der Natur des Geistes erscheint, folgt, wird man nur sich selbst vergangene Ereignisse erinnernd finden, über verschiedene Bedürfnisse spekulierend und diverse Aktivitäten planend. Es ist exakt diese konzeptuelle Aktivität, die uns in der Vergangenheit in den kummervollen Ozean von Samsara zurückgeworfen hat. Es gibt keinen Zweifel, dass Referentialität das gleiche Ergebnis in der Zukunft hervorrufen wird. Wäre es nicht wünschenswert, die Ausbreitung der Referentialität beenden zu können?

Wenn man, wie auch immer, die Kette der Referentialität durchbricht – wie erscheint non-duales Gewahrsein? Ist es nicht klar überwältigend, leicht, frei und erfreulich? Ist es nicht grenzenlos? Ist es nicht undefiniert durch Selbst-Attribute? Es gibt nichts in Samsara und Nirvana, dass nicht von non-dualem Gewahrsein erfasst wird. Von Anfangslosigkeit an ist non-duales Gewahrsein immer-präsent. Es ist uns eingeboren, aber dennoch grundlegend jenseits unseres Bereichs von Referentialität, Mühe und Imagination.

Aber wie – könntest du fragen – ist es, das Gesicht non-dualen Gewahrseins zu erkennen? Obwohl man es erfährt, kann man es nicht beschreiben. Es wäre, als würde eine stumme Person versuchen Träume zu beschreiben. Es ist unmöglich zwischen sich selbst in non-dualem Gewahrsein ruhend und dem non-dualen Gewahrsein, das erfahren wird, zu unterscheiden. Wenn man natürlich ruht – nackt – im grenzenlosen Zustand non-dualen Gewahrseins, evaporiert die Dringlichkeit unkluger hyperaktiver Konzeptualität, von Gedanken und aufgewühlten Plänen, und verschwindet im raumhaften Himmel des Gewahrseins. Referentialität kollabiert und verflüchtigt sich in non-duales Gewahrsein.

Dieses Gewahrsein hat man in sich selbst. Es ist die klare, nackte Weisheit von Chöku. Aber wer kann in sie einführen? Worauf soll man seine Grundlage errichten? Wessen kann man sicher sein? Es ist der eigene Lama, der den Zustand des Gewahrseins darstellt – und wenn man erkennt, dann ist es so, dass die Natur des Geistes selbst-eingeführt ist. Die Erscheinungen von Samsara und Nirvana sind bloß die Darstellung deines eigenen non-dualen Gewahrseins – also etabliere selbst eine Grundlage für dieses Gewahrsein. So wie Wellen im Meer aufsteigen und sich wieder auflösen, entstehen und vergehen Gedanken innerhalb non-dualen Gewahrseins. Dieses Entstehens und Auflösens gewiss findet man sich losgelöst vom meditierenden Subjekt und dem, worüber meditiert wird. Man befindet sich jenseits des meditierenden Geistes.

Dies hörend könnte man meinen, dass es keine Notwendigkeit für Meditation gibt – aber ich versichere euch, es gibt eine Notwendigkeit. Bloßes Erkennen non-dualen Gewahrseins kann nicht zu vollständiger Befreiung führen. Durch unzählige Leben von Anfangslosigkeit an war man ein erbärmlicher Sklave der Referentialität, von falschen Prämissen und irrigen Gewohnheiten eingehüllt. Und wenn man stirbt, ist die eigene Bestimmung ungewiss. Man folgt seinen Wahrnehmungen und verhält sich entsprechend. Das ist der Grund für Meditation und dafür, kontinuierlich die Präsenz des Gewahrseins zu finden, in die man eingeführt wurde. Kunkhyen Longchenpa sagte:
Jemand kann die Natur des Geistes erkennen, aber wenn man nicht meditiert und sich somit an diese Natur gewöhnt, wird man wie ein Baby, dass auf einem Schlachtfeld gelassen wird. Man wird vom Feind überwältigt – den erbarmungslosen Söldnern deiner eigenen Referentialität.

Dzogchen bedeutet spontan natürlich zu sein und konstant präsent. Dadurch gewöhnt man sich daran in der ursprünglichen ungehinderten Natur zu verweilen. Dzogchen bedeutet sich darin zu üben, den Zustand non-dualen Gewahrseins zu lassen wie er ist.

Wie gewöhnen wir uns daran in der Natur des Geistes zu verweilen? Wenn Gedanken entstehen, lass sie entstehen. Es gibt keine Notwendigkeit Gedanken als Feinde zu betrachten. Wenn Gedanken entstehen, entspanne in ihrem Entstehen. Wenn keine Gedanken entstehen, erschaffe sie nicht durch nervöses Spekulieren darüber, wann sie entstehen werden. Ruhe einfach in ihrer Abwesenheit. Wenn konkret klar definierte Gedanken plötzlich während der Meditation auftauchen, ist es einfach sie zu unterscheiden – aber wenn inkonsequente subtile Bewegungen auftreten, ist es nicht einfach diese Bewegungen unmittelbar zu erkennen. Sie sind ’ög’gyu’i namtog (’og gyu’i rNam rTog), die unterschwellig wandernden Ideen – der Dieb der Meditation. Daher ist es wichtig präsent zu bleiben. Wenn man konstant präsent in Meditation und Nachmeditation ist – dann, ob man nun isst, schläft, geht oder sitzt, ist es das – das ist der natürliche Zustand.

Padmasambhava sagte:
Hunderte von Punkten können erklärt werden – oder selbst tausend erhellt – aber nur Eines ist zu wissen, und alles ist befreit: Verweile mit non-dualem Gewahrsein der Natur des Geistes .

Wenn man nicht meditiert, wird man keine Sicherheit erreichen – aber wenn du meditierst, wirst du es. Aber was ist dies für eine Sicherheit? Wenn man im Meditieren voller Freude und Eifer fortschreitet, werden Zeichen auftauchen, die zeigen, dass man sich daran gewöhnt hat, in der Natur des Geistes zu verweilen.

Das enge Haften an dualistisch erfahrene Phänomene wird graduell nachlassen. Obsession in bezug auf Glücklichsein und Leiden, Hoffnungen und Ängste – wird schwinden. Die Hingabe zum Lama wird aufblühen. Ernsthaftes Vertrauen in die Anweisungen des Lamas wird reifen. Angespannte dualistische Attitüden werden sich verflüchtigen. Gold und Kies, Viktualien und Widerwärtiges, Gottheiten und Dämonen, Rechtschaffenheit und Schuldhaftigkeit werden das Gleiche sein. Man könnte nicht mehr sagen, ob man die Himmel oder die Höllen wählen würde. Bis zu diesem Punkt jedenfalls nimmt man den Dualismus ernst – und daher erscheinen Rechtschaffenheit und Schuldhaftigkeit, die Himmel und die Höllen, Wohlgefallen und Schmerz, Handlungen und Ergebnisse – immer noch real.

Padmasambhava sagte: Meine Sicht ist so weit wie der Himmel, aber meine Handlungen sind feiner als Mehl. Also sollte man nicht durch das Leben schlingern und torkeln, ein Dzogchenpa oder eine Dzogchenma zu sein vorgebend, wenn man eigentlich die ganze Zeit kaum mehr als ein aufgeblähter Flegel ist, von Gier zerfressen und nach abgestandenem Bier stinkend.

Es ist essentiell eine stabile Grundlage der Hingabe und gehaltener Gelübde zu haben und mit gut ausbalanciertem freudvollem Eifer voran zu kommen, der weder zu rigide noch zu oberflächlich ist. Wenn man meditiert – wenn man sich von weltlichen gesellschaftlichen Belangen abwendet – ist es sicher, dass man den grundlegenden Pfad des Dzogchen erreichen wird. Warum auf zukünftige Leben warten, wenn die ursprüngliche Bastion in diesem Moment erfasst werden kann? Dieser Rat ist mein Herzjuwel – also bewahre ihn und trenne dich nie davon.