Tantrisches Ngöndro aus der Sicht des Dzogchen

Eine Unterweisung von Seiner Heiligkeit Dudjom Rinpoche

Ngak’chang Rinpoche transkribierte die folgenden Belehrungen, welche von S.H. Jigdral Yeshé Dorje Dudjom Rinpoche, dem ersten Oberhaupt der tibetischen Nyingma Schule im Exil, in mündlicher Form gegeben wurden; diese wurden durch die Antworten auf Fragen ergänzt, welche Ngak’chang Rinpoche in privaten Audienzen in Bezug auf das kurze Dudjom gTérsar Ngöndro stellte (Bodhanath, Kathmandu, Nepal, 1979).

Welche Praxis wir auch immer ausüben, relative und absolute Wahrheit bestehen nebeneinander. Methode und Weisheit bestehen nebeneinander. Erfahrung und Leerheit bestehen nebeneinander. Und weil dies die Natur der Wirklichkeit ist, welche wir erleben, besteht die Praxis des tantrischen Ngöndro als eine Methode, um den anfangslosen erleuchteten Zustand zu erfahren.

Die letzte Phase des tantrischen Ngöndro, Lama’i Naljor, ist die Quintessenz dieser Methode. In der Praxis des Lama’i Naljor erreichst du diesen Zustand der Weisheit, wenn der Lama sich auflöst und eins mit dir wird. An diesem Punkt bleibst du in der absoluten Natur der Dinge, welcher der tatsächliche Zustand der Meditation ist wie sie ist (wie es in den Dzogchen Belehrungen überliefert wird).

Am Beginn des tantrischen Ngöndro rufen wir die Präsenz des Lamas an. Da der Lama derjenige ist, welcher die Qualitäten von Pfad wie auch Ziel repräsentiert, erkennen wir den Lama als Anfang und Ende aller Praxis.

Nachdem wir begonnen haben den Lama zu erkennen, bedenken wir, wie schwierig es ist eine menschliche Form zu erlangen (im Sinne dessen, dadurch günstige Umstände zum Praktizieren zu haben). Diese Form ist die Basis des spirituellen Weges der Befreiung und daher ist sie kostbar und verdient großen Respekt. Wenn du die Situation, in welcher du dich befindest nicht wertschätzt, wirst du deine kostbaren Umstände nicht nutzen und eine große Gelegenheit wird verschwendet sein.

Als nächstes bedenken wir Vergänglichkeit und Tod. Alles was existiert ist der Veränderung und Auflösung unterworfen. Selbst wenn du stirbst findest du Freiheit nicht einfach dadurch, dass du die physische Form verlierst. Du kreist nur weiterhin in samsarischer Vision und nimmst entsprechend den Mustern deiner Wahrnehmung unzählige andere Formen an. Die Natur des Samsara ist die Erfahrung des Leidens, das durch den Versuch entsteht, die Illusion der Dualität aufrecht zu erhalten. Das kontemplieren wir.

Als nächstes reflektieren wir unsere Konditionierungen und die Muster unserer karmischen Vision (Sichtweise, Wahrnehmung). Wir erkennen, auf welche Art und Weise unsere Wahrnehmung und Reaktionen durch die dualistische Konditionierung beherrscht werden und welche so schwierig zu untergraben ist.

Diese werden die Lo-tog nam-zhi ‚die Vier Gedanken‘ genannt, welche den Geist auf die Praxis richten. Sie dienen dazu, die Aufmerksamkeit weg vom zwanghaften Erschaffen und Wiedererschaffen von Mustern zu lenken. Es ist wichtig, am Beginn der Praxis bei diesen Lo-tog nam-zhi zu verweilen um die angemessene Motivation für die Praxis zu erzeugen.

Auf diese Art und Weise zu praktizieren ist wie das Eggen eines gepflügten Feldes, um es auf die Saat vorzubereiten. Dann müssen wir die Saat selbst sähen. Die Saat sähen bedeutet Zuflucht zu erlangen; Boddhicitta zu erzeugen; Khyil-khor (zur Anhäufung von Ursachen, welche zur Erfüllung von Methode und Weisheit führen) und Reinigung durch Dorje Sempa Rezitationen darzubieten. Diese Übungen sind wie Samen, die in die Erde gesäht werden (welche durch die Kontemplation der lo-thog nam-zhi vorbereitet wurde).

Aus der Perspektive des relativen Zustandes (in welchem wir uns befinden) ist es nicht möglich die absolute Wirklichkeit zu erfahren, ohne sich auf das Relative zu beziehen. Du kannst die wahre Natur des Geistes nicht erfahren, ohne das Relative als Basis zu benutzen. Gleicherweise kannst du ohne diese relative Praxis die Natur der Leerheit nicht direkt erfahren. Das Relative und das Absolute bestehen nebeneinander – sie gehen Hand in Hand; es ist in der Tat sehr wichtig dies zu verstehen.

Betrachten wir nun die Zuflucht. Auf der äußeren Ebene gibt es das, was die Kön-chog Sum genannt wird: sang-ye, chö und gendün (Buddha, Dharma und Sangha).; Sang-ye ist die Quelle von chö. Diejenigen, deren Sinn auf chö gerichtet ist, sind gendün.

Weil wir in Dualität existieren, erleben wir scheinbare Unzufriedenheit. Aufgrund dessen nehmen wir Zuflucht, um von der Erfahrung der selbst erzeugten Unzufriedenheit befreit zu werden. Da wir unsere wahre Natur mißverstehen (aufgrund der wahnhaften Erscheinungen, die entstehen, wenn sich die verschiedenen Elemente gemäß den Mustern dualistischer Verwirrung vermischen) wird der menschliche Körper zum Gefäß endloser dualistischer Projektionen. Er wird eine Quelle der Anhaftung, indem er irrige Definitionen für die Existenz liefert. Diese Anhaftung bleibt sehr stark, bis du die wahre Natur der Existenz erkennst. Solange du dich nicht vollständig von dem Irrtum, dein Körper sei die Grundlage deiner Existenz, befreit hast, solange wird Unzufriedenheit ohne Unterlaß deine Erfahrungen prägen. Aus diesem Grund stellen die Kön-chog Sum einen Brennpunkt der Zuflucht da.

Darum, äußerlich gesprochen, sollte man zu sang-gyé, chö und gendün mit Hingabe Zuflucht nehmen. Innerlich aber (auf einer tiefen Ebene) sind sang-gyé, chö und gendün symbolisch. Sie sind ein tiefgründiger und geschickter Weg, uns aus dem selbsterschaffenen, illusionären Samsara zu führen.

Vom Standpunkt des Dzogchen aus gesehen sind sang-gyé, chö und gendün in uns selbst. Auf der Ebene des Absoluten ist unser Geist, wenn er von allen Bezugskoordinaten leer ist, selbst sang-gyé (Rigpa – strahlendes Leuchten aus sich selbst). Äußerlich manifestiert sich chö als Klang und Bedeutung: Du hörst es und du praktiziertst es. Aber von einem inneren Standpunkt aus gesehen ist chö leer. In seiner Essenz ist es die unablässige, ungehinderte Entfaltung von Rigpa – dem ursprünglichen Geist. In äußerem Sinn umfaßt gendün all jene, die ihren Geist auf chö richten. Aber in einem inneren Sinn ist gendün der alles durchdringende Aspekt des Geistes.

Sie sind alle vollständig in uns. Da wir das jedoch nicht erkennen, brauchen wir die Zuflucht in das externe sang-gyé, chö und gendün. Wenn du tantrisches ngöndro wirklich richtig praktizierst, dann visualisierst du Padmasambhava mit glühender Hingabe; du vollziehst Niederwerfungen mit deinem Körper in Demut; und du rezitierst die Zufluchtsformel mit deiner Sprache. Wenn du am Ende deiner Praxis in Stille sitzt (und die Visualisierung in dir selbst auflöst) dann erkennst du, dass alle diese 3 Dinge – Subjekt, Objekt und Aktivität – nichts anderes als rigpa sind! Man ist selbst die Meditation; Padmasambhava ist unsere eigene Kreation. Verweile einfach in der Natur von Rigpa. Außer Rigpa gibt es nichts zu finden!

Shakyamuni Buddha sagte in den Do-de Kalpa Zangpo, Ich manifestierte mich auf eine traumähnliche Weise vor traumähnlichen Wesen und gab traumähnliches chö, aber in Wirklichkeit lehrte ich nie und kam auch nie. Vom Standpunkt des Shakyamuni Buddha, niemals gekommen zu sein und das chö niemals gegeben zu haben, ist alles bloße Wahrnehmung, welche nur in der augenscheinlichen Sphäre des So-seins existiert.

Im Hinblick auf die Praxis der Zuflucht ist der relative Aspekt das Objekt der Zuflucht, welchem man die Hingabe, die Niederwerfungen und so weiter darbietet. Der absolute Aspekt ist ohne Anstrengung. Wenn du die Visualisation auflöst und im natürlichen mühelosen Zustand des Geistes verweilst, existiert das Konzept der Zuflucht nicht länger.

Die Erzeugung von Chang-chub-sem (Bodhicitta) oder erleuchtetem Denken meint, dass wenn wir nur für uns selbst handeln, wir nicht dem Pfad des chö folgen und unsere Erleuchtung blockieren. Es ist von äußerster Wichtigkeit erleuchtetes Denken zu ezeugen, um alle Wesen aus Samsara zu befreien. Wesen sind grenzenlos wie der Himmel. Sie waren alle unsere Väter und Mütter. Sie alle haben in diesem Samsara gelitten, welches wir alle aus dem Urgrund des Seins weben. Daher ist der Gedanke, sie aus diesem Leiden zu erlösen, sehr mächtig. Ohne dieses haben wir die irrige Vorstellung, von allen fühlenden Wesen getrennt zu sein.

Der erleuchtete Gedanke (in den Worten des Chang-chub-sem Gelübdes) lautet: Von jetzt an bis Samsara leer ist, werde ich für das Wohlergehen aller Wesen wirken, die meine Väter und Mütter waren. Vom relativen Standpunkt aus also, gibt es fühlende Wesen, welche befreit werden sollen, gilt es Mitgefühl zu erzeugen und gibt es ein ‚Ich‘ als Erzeuger von Mitgefühl. Die Art und Weise wie Mitgefühl erzeugt und gezeigt werden soll, wird tatsächlich von Buddha Shakyamuni selbst erklärt. Das ist das relative Chang-chub-sem.

In dieser relativen Praxis des chang-chub-sem visualisierst du also alle Wesen und erzeugst den erleuchteten Gedanken. Du versuchst sie von allen Leiden zu befreien, bis Erleuchtung erreicht ist. Du rezitierst die Erzeugung von chang-chub-sem so oft wie es deine Praxis vorschreibt. Die Anweisungen (gemäß den Belehrungen bezüglich der Entwicklung von chang-chub-sem) lautet, dein Glück gegen den Schmerz der anderen auszutauschen. Wenn du ausatmest, gibst du all dein Glück und deine Freude (und selbst deren Ursachen) allen anderen fühlenden Wesen. Wenn du einatmest, nimmst du all ihren Schmerz und ihr Leiden, sodass sie davon frei sein können. Diese Praxis ist ebenfalls sehr wichtig. Ohne die Entwicklung von chang-chub-sem und ohne uns von unserer Anhaftung (an den Formaspekt der Leerheit) zu befreien, können wir nicht Erleuchtung erlangen. Unsere Unfähigkeit Mitgefühl zu zeigen und unsere Anhaftung an die Vorstellung von uns selbst, sind der Grund warum wir von Dualismus nicht frei sind. Alle diese Dinge sind die relativen Aspekte des chang-chub-sem.

In Bezug auf den absoluten Aspekt von chang-chub-sem sagte Shakyamuni Buddha zu seinem Schüler Rabjor: Alle Phänomene sind wie eine Illusion und ein Traum; der Grund warum Buddha dies sagte ist der Umstand, dass alles was sich manifestiert der Veränderung und der Auflösung unterworfen ist; nichts ist aus sich heraus fest, dauerhaft, getrennt, fortdauernd oder definiert. Wenn du die Welt als fest ansiehst, bindest du dich selber mit einem Seil der Verstrickung, bist gefesselt und wirst (wie ein Hund) von einer Leine aus Zwängen gezogen. Du wirst in Aktivitäten hineingezogen, welche nie beendet werden können; dies ist der Grund warum Samsara offenbar endlos ist.

Du könntest denken, dass wenn Samsara wie ein Traum ist, vielleicht Erleuchtung fest und dauerhaft ist. Aber Buddha sagte, dass das Nirvana selbst wie ein Traum ist – eine Illusion. Da ist nichts, das man Nirvana nennen könnte, nichts, das Nirvana genannt wird, das greifbar wäre.

Shakyamuni Buddha sagte dies direkt: Form ist Leerheit. Beispielsweise spiegelt sich der Mond im Wasser , aber da ist kein Mond im Wasser, und er war es nie! Da ist keine Form, welche er-faßt werden kann! Sie ist leer! Dann fuhr Shakyamuni Buddha fort zu sagen: Leerheit selbst ist Form. Leerheit selbst hat sich in der Art von Form gezeigt. Du kannst Leerheit nicht getrennt von Form finden. Du kannst die zwei nicht trennen. Du kannst sie nicht als voneinander getrennte Wesenheiten fassen. Der Mond spiegelt sich im Wasser, aber das Wasser ist nicht der Mond. Der Mond ist nicht das Wasser, aber du kannst Mond und Wasser nicht trennen. Sobald du dies auf der Ebene der Erfahrung verstanden hast, gibt es kein Samsara. Im Bereich der Verwirklichung gibt es kein Samsara oder Nirvana! Wenn wir von den Lehren des Dzogchen sprechen, dann sind Samsara und Nirvana nur ein weiteres dualistisches Konzept.

Doch wenn wir den Mond im Wasser betrachten, könntest du sagen: Aber er ist da, ich kann ihn sehen! Doch wenn du dich nach ihm ausstreckst und versuchst ihn zu berühren – er ist nicht da! Mit den Gedanken, die im Geist aufsteigen, ist es dasselbe. Falls du dich also fragst: Wie kam dies eigentlich zustande? mußt du bedenken, dass alles in gegenseitiger Abhängigkleit entsteht. Was ist also dieses interdependente Entstehen? Es ist einfach so, dass der Mond und das Wasser nicht unabhängig voneinander existieren. Das klare Wasser ist die primäre Ursache, der Mond die sekundäre oder beitragende Ursache. Wenn diese beiden Ursachen zusammentreffen, dann manifestiert sich dieses interdependente Entstehen. Es ist das gleichzeitige Erscheinen einer primären und einer beitragenden Ursache. Um es direkt zu sagen: die primäre Ursache oder Basis des Samsara ist Dualität – die künstliche Trennung von Leerheit und Form.

Davon ausgehend werden alle Manifestationen zu beitragenden Ursachen innerhalb der Rahmenbedingungen der karmischen Vision. Sie treffen zusammen und erzeugen die Manifestationen des Samsara (solange wir am Formaspekt der Leerheit als einer Definition des Seins festhalten). Alles was wir als Samsara erfahren, existiert nur innerhalb dieses interdependenten Musters. Dessen mußt du dir ganz gewiss sein! Wenn du weiter gehst (und die Natur der interdependenten Entstehung untersuchst) findest du heraus, dass sie nichts anderes als Leerheit ist. Daher gibt es, außer der Leerheit, kein chö. Die ultimative Sicht des Thegchen (Mahayana) ist Leerheit, doch dieser Gesichtspunkt existiert in den niedrigeren Lehren nicht.

Wenn du deine Erfahrung der Existenz wirklich mit dem Auge der Meditation betrachtest, beginnst du alles als das Spiel der Leerheit zu sehen. Phänomene (als Bezugskoordinaten) erschöpfen sich und schließlich gelangst du an ihre existentielle Natur, welche Leerheit ist. Doch jetzt wo ich dies gesagt habe, könntest du versucht sein zu sagen: In diesem Fall sollten wir gar nichts brauchen. Doch ob du etwas brauchst oder nicht, liegt ganz bei dir Es hängt einfach von deinem Geist ab. Nur trocken über die Leerheit zu reden genügt nicht, du mußt sie erleben und dann für dich selbst sehen. Wenn dein Geist wirklich leer ist von referentieller Manipulation, dann gibt es keine Angst, keine Negativität – dein Geist ist dann frei davon! Es ist, als würde deine Hand am Himmel winken! Was immer erscheint, es steigt vollkommen ungehindert auf.

Der Zweck der Meditation ist es, in diesem natürlichen Zustand zu verweilen. In diesem Zustand werden alle Phänomene direkt in ihrem natürlichem Zustand erfahren. Deswegen praktizieren wir Meditation. Meditation reinigt alles in seine leere Natur. Zuerst müssen wir verstehen, dass der absolute natürliche Zustand der Dinge leer ist. Dann ist alles was sich manifestiert das Spiel von Dharmakaya. Aus der leeren Natur der Existenz steigen alle relativen Manifestationen auf aus denen wir Samsara fabrizieren. Du mußt ganz klar verstehen wie die Dinge in Wirklichkeit sind und wie sie im Sinne der Dualität erscheinen. Es ist sehr wichtig diese Sichtweise zu haben, denn ohne diese Sichtweise wird deine Meditation dumpf. Einfach dazusitzen und zu sagen alles ist leer ist wie eine kleine Tasse umzudrehen! Der kleine Raum, in der Tasse bleibt ein sehr kleiner begrenzter Raum. Du kannst nicht einmal Tee daraus trinken!

Es ist essentiell, das Herz der Dinge tatsächlich zu erkennen wie es wirklich ist. In diesem absoluten Sinn gibt es keine fühlenden Wesen, welche Unzufriedenheit erfahren. Die Unzufriedenheit ist so leer wie der klare Himmel, doch aufgrund der Anhaftung an den Formaspekt der Leerheit (interdependente Entstehung) wurde die relative Sphäre der Dinge zur illusionären Falle, in welcher sich tatsächlich fühlende Wesen befinden, die Unzufriedenheit erleben. Das ist die Bedeutung von Samsara.

Um die essentielle Qualität der Großen Mutter Leerheit auszudrücken, heißt es: Obwohl du denkst, du drückst die Natur des Herzsutras aus, kannst du es nicht in Worte fassen. Es ist vollkommen jenseits von Ausdruck, jenseits von Gedanken, jenseits von Konzept. Es wurde nie geboren. Es ist nie gestorben. Wenn du fragst wie es ist, es ist wie der Himmel. Du kannst nie die Grenze des Himmels finden. Darum ist diese himmelsartige Natur symbolisch für die Leerheit: sie ist raumhaft, grenzenlos und frei, von unendlicher Tiefe und unendlicher Ausdehnung.

Aber nachdem ich dies gesagt habe könntest du sagen: So ist mein eigenes Rigpa, die Natur meines eigenen Geistes wie der Himmel, frei von allen Begrenzungen. Doch das ist es auch nicht! Es ist nicht bloß leer! Wenn du hinschaust, ist da etwas zu sehen. Sehen ist bloß ein Wort, welches wir gebrauchen um zu kommunizieren. Aber das kannst du sehen. Du kannst darüber meditieren. Du kannst darin, und in was immer aus diesem raumhaften Zustand aufsteigt, verweilen. Wenn du die wahre Natur von Leerheit und Form als nicht-dual siehst – wie es wirklich ist – das ist die Mutter aller Buddhas. All dieses Gebrabbel war eine Elaboration über das absolute chang-chub-sem.

Als nächstes kommt die Reinigung durch Dorje Sempa. Im absoluten Sinn gibt es nichts zu reinigen, niemand der dich reinigen könnte und keine Reinigung. Doch da Wesen es dabei anscheinend nicht belassen können, werden die Dinge ein bißchen komplizierter. Verdunkelungen und dualistische Verwirrung entstehen als Konsequenz des sich Anklammerns an den Formaspekt der Leerheit.

In der illusionären Wahrnehmung dieses Greifens nach dem Formaspekt der Leerheit, setzen wir uns unendlicher Unzufriedenheit aus. Aus diesem Grund wird Reinigung zu einem ziemlich geschickten Mittel. Um unsere Vorstellungen zu reinigen, erscheint Dorje Sempa yab-yum aus unserem eigenen wahren Rigpa Zustand und der Nektarfluß aus dem geheimen khyil-khor ihrer Vereinigung reinigt unsere Verdunklungen vollständig. Du trittst in die Visualisierung ein und rezitierst das 100 Silben Mantra; und dies ist das Mittel zur Reinigung. Im natürlichen Zustand der Dinge (im Zustand dessen was ist) ist alles von Anfang an rein – wie der Himmel. Das ist die absolute Reinigung von Dorje Sempa.

Nun kommen wir zum Darbieten des khyil-khor (Kosmogramm oder Mandala). Das khyil-khor wird dargeboten, um günstige Bedingungen anzuhäufen. Warum müssen wir günstige Bedingungen anhäufen? Aufgrund unseres Greifens nach dem Formaspekt der Leerheit kam das illusionäre Samsara zustande; deswegen müssen wir praktizieren um das alles aufzugeben. Weil die Illusion besteht, dass es einen Weg gibt Illusion zu reinigen, können wir dies als geschicktes Instrument nutzen. Weil du reinigen kannst, gibt es auch die Möglichkeit günstige Bedingungen anzuhäufen. Wenn du meinen Körper, meinen Besitz und meinen Ruhm darbietest, ist dies die relative symbolische Darbietung des khyil-khor. Vom absoluten Standpunkt aus sind diese Dinge leer, wie der leere Himmel. Wenn du im Zustand des absoluten Gewahrseins verweilst, dann ist dies die absolute Darbietung des khyil-khor und die absolute Anhäufung günstiger Bedingungen. Dann gibt es die Praxis des Lama’i Naljor. Da wir uns an den Formaspekt der Leerheit klammern, erscheint uns der Lama als der, welcher uns zur Reinheit des Geistes inspiriert. Er oder sie ist das Objekt in Bezug auf welches wir uns ‚rein‘ fühlen. Da Anklammern den Geist verdunkelt (und weil du in Bezug auf den Lama Reinheit der Wahrnehmung empfindest) scheinen sowohl du, als auch der Lama in der Sphäre des Dualismus zu existieren (als ob die grundsätzliche Natur eures Geistes in der Sphäre des dharmakaya voneinander verschieden wäre). Darum visualisierst du – äußerlich – den/die Lama mit äußerster Hingabe. Dann erhältst du die Ermächtigung von seinem oder ihrem nicht-dualen Zustand.

Alles dies sind die äußerlichen, relativen Praktiken des Lama’i Naljor, in welchen du die Weisheitspräsenz des symbolisch anwesenden Lama angerufen hast. Dann rezitierst du die Vajra Worte: Der Lama löst sich in Licht auf und vereinigt sich mit meinem Sein … sieh! Der eine Geschmack von Rigpa und Leerheit (rig-tong) sind das tatsächliche Gesicht des Lamas. Wenn du fragst, wo der absolute Lama ist, er oder sie ist nirgendwo als dort – in der absoluten Natur des Geistes! Es ist im absoluten Zustand von Rigpa, wo der Lama als ursprüngliche Weisheit und klarer Raum verwirklicht ist. Einfach das Gewahrsein dessen wie es ist fortzusetzen, ist die Dzogchen Praxis von Lama’i Naljor.

So bezieht sich das äußere tantrische Ngöndro auf das innere Ngöndro im Bezug auf die Lehren des Ati Yoga.