Lama’i Naljor

Interview mit Ngak’chang Rinpoche

Wales, 1992

F Rinpoche, was ist Lama’i Naljor und was ist der essentielle Zweck dieser Praxis?

R Lama’i Naljor („Guru Yoga“ im Sanskrit) ist die wichtigste Praxis des Tantra. Es ist ebenso die wichtigste Praxis des Dzogchen. Das Wort Lama hat nicht nur die Bedeutung des äußeren Lehrers, sondern auch die der eigenen verwirklichten Natur des Individuums. Das Wort Naljor hat die Bedeutung von ‘Einheit’. Lama’i Naljor meint also die Praxis der Vereinigung mit dem Geist des Lehrers und die Erkenntnis, dass der Geist des Lehrers und die eigene erleuchtete Natur identisch sind. Lama’i Naljor ist als Methode der Praxis sehr wichtig, weil wir einige Schwierigkeiten dabei zu haben scheinen, direkt unserer eigenen erleuchteten Natur zu vertrauen oder zu glauben. Es ist einfacher, der erleuchteten Natur des Lehrers zu vertrauen, insofern er oder sie uns inspiriert hat, zu praktizieren. In diesem Sinne ist die erleuchtete Natur des Lehrers eine Reflexion unserer eigenen erleuchteten Natur. So ist Lama’i Naljor tatsächlich ein Weg, deiner eigenen erleuchteten Natur zu vertrauen. Lama’i Naljor authentifiziert die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler und es ermöglicht dir ebenso, die Wahrnehmung zu authentifizieren, durch welche Du deine erleuchtete Natur im Moment erfahren kannst. Wenn Übertragung so oft wie möglich erlebt wird, sind wir fähig, in unserem Leben umfassenden Nutzen aus unserem Lehrer zu ziehen. Wir praktizieren Lama’i Naljor, um die Vereinigung mit dem erleuchteten Geist des Lehrers zu erfahren. Durch diese Erfahrung realisieren wir, dass unsere eigene Erleuchtung die gleiche ist wie die des Lehrers. Lama’i Naljor ist tatsächlich das Herz des Tantra. Wenn man nur eine Visualisationspraxis machen könnte, dann sollte es Lama’i Naljor sein.

F Was ist der Unterschied zwischen Lama’i Naljor und anderen Visualisationspraktiken, Rinpoche?

R Wie bei allen tantrischen Praktiken liegt der Unterschied darin, wie ihre devotionalen und inspiratorischen Eigenschaften Richtung und Anstoß geben. Wenn du in einen Prozess des Selbst-Erscheinens eintrittst, ist der Lehrer nicht notwendigerweise spezifisch betroffen, aber mit Lama’i Naljor erhältst du Ermächtigung in genau dem gleichen Sinn, wie du sie mit einem äußeren Lama erhalten würdest. Mit dem Machig Lapdron Lama’i Naljor (eine Praxis innerhalb der Aro gTér Tradition) zum Beispiel erfolgt ein Prozess der „Selbst-Einweihung“ durch die Übertragung der farbigen leuchtenden Keimsilben. Dies ist das Gleiche wie die vier Einweihungen, die von einem Lama während einer rituellen tantrischen Ermächtigung gegeben werden. Der Unterschied zwischen Lama’i Naljor und anderen Visualisationen liegt nicht in der Wahl des Gewahrseinswesens. Er liegt in erster Linie in der inspirierten Empfindung von Hingabe, mit der jemand das Gewahrseinswesen als Verkörperung des eigenen Lehrers ansieht und in zweiter Linie darin, Übertragung vom Gewahrseinswesen zu erhalten. Dieselbe Gottheit kann also sowohl für das Selbst-Erscheinen als auch für die Lama’i Naljor Praxis benutzt werden.

F Kannst du mehr über die Ermächtigung und die vier Initiationen sagen?

R Eine rituelle Ermächtigung besteht aus drei Teilen. Diese sind das Wang (Übertragung durch die Kraft des Symbols), das Lung (Übertragung durch Laut), und das Tri (Übertragung durch Erklärung). Das Wang ist unterteilt in mehrere verschiedene Bereiche, den tantrischen Fahrzeugen entsprechend. Das uns betreffende Fahrzeug ist das innere Tantra der Nyingma Schule. In diesem System besteht das Wang aus den vier Ermächtigungen, die den vier Kayas entsprechen:

Nirmanakaya (Trül-ku), Sphäre der relativen Manifestation oder Form,

Sambhogakaya (Long-ku), Sphäre der unberührbaren Erscheinung oder Vision,

Dharmakaya (Chö-ku), Sphäre der unbedingten Potentialität oder Leerheit,

Svabhavikakaya (Ngo-wo-ku oder Dorje-ku), letztendliche Wirklichkeit, in der die drei vorausgehenden Kayas der Form, Energie und Leerheit ungetrennt sind.

Aus der Perspektive des Svabhavikakaya sind die drei Kayas Ornamente des Svabhavikakaya – also gibt es dort weder Leerheit, noch Vision, noch Manifestation.

Die erste Ermächtigung ist die Jug-oder Vasen-Initiation. Das ist diejenige, bei der du das Wasser empfängst, sie ist verbunden mit Reinigung, bildet aber auch die Grundlage für die Realisation im Nirmanakaya Bereich bzw. die Realisation im Bereich der Form.

Die zweite Ermächtigung ist üblicherweise die, bei der ein Bild des Gewahrseinswesens gezeigt wird, das sich auf die Art der gegebenen Ermächtigung bezieht. Diese bildet die Grundlage für die Realisation im Sambhogakaya Bereich, also dem Bereich der Energie oder Vision.

Die dritte Ermächtigung ist diejenige, bei der ein Bild der Keimsilben gezeigt wird, das sich auf das Gewahrseinswesen bezieht. Diese bildet die Grundlage für die Realisation im Bereich von Dharmakaya oder Leerheit.

Die vierte und letzte Ermächtigung ist die, bei der der Kristall gezeigt wird, der den Svabhavikakaya repräsentiert, die Grundlage für die vollständige Realisation.

F Warum hast du Machig Lapdron für deine Schüler als Lama’i Naljor gewählt?

R Weil diese Praxis sehr wichtig in der Linie seiner Heiligkeit Chhi’mèd Rig’dzin Rinpoche ist, einer meiner vielen Lehrer. In einem seiner vorausgehenden Leben war er der Sohn und Hauptschüler von Machig Lapdron. In dem Leben wurde er Gylawa Thöndrup genannt. Als er jung war, fragte er seine Mutter nach einem kurzen und einfachen Lama’i Naljor und dies hat sie für ihn geschrieben. Die Melodie, mit der wir dieses Lama’i Naljor singen. Seine Heiligkeit Chhi’mèd Rig’dzin Rinpoche erinnert sich an dieses Lama’i Naljor in seinem eigenen Geist mit vollkommener Klarheit. Er hört tatsächlich ihre Stimme in seiner Erinnerung, als ob sie es ihm erst vor ein paar Tagen gesungen hätte, statt mehrere Leben zuvor. Das ist der Hauptgrund, warum ich dieses Lama’i Naljor gewählt habe. Solch direkte Übertragung macht es zu einer sehr kraftvollen Praxis. Dann … ist da die Verbindung mit Chöd. Falls einige meiner Studenten Chöd in der Zukunft praktizieren möchten, werden sie zumindest fähig sein, die Chödtrommel und Glocke zu handhaben.

F Kannst du auf die Bedeutung der Wichtigkeit des Lama’i Naljor im Dzogchen eingehen?

R Lama’i Naljor wird im Dzogchen oft praktiziert. In diesem System wird Lama’i Naljor praktiziert, indem nur der Buchstabe A verwendet wird. Zum Beispiel wird dies als Abschluss des Machig Lapdron Lama’i Naljor verwendet, wir verwenden es auch am Ende des „Sieben-Zeilen-Gebetes“ und vieler anderer Lieder in unserer Praxis. Das A wird an diesem Punkt als die Einheit all deiner Lehrer visualisiert, und du findest die Präsenz des Gewahrseins in der Dimension dieses Buchstabens A. Dies wird auch am Anfang von Machig Lapdron verwendet. Die Abfolge des Machig Lapdron Lama’i Naljor ist folgende:

Es beginnt mit dem Dzogchen A. [Bild]

Dann geht es ins Maha Yoga – Machig Lapdron wird als außerhalb befindlich gesehen, mit den farbigen Keimsilben auf ihrem Körper. Dann Anu Yoga – man wird zu Machig Lapdron durch die Vereinigung der Keimsilben auf ihrem und deinem Körper. Dann schließlich die Dzogchen oder Ati Yoga Phase mit dem weißen A – die Explosion der Visualisation gehört ebenfalls zur Ati Yoga Phase. Hierfür wird der Kangling während der Praxis gebraucht. Die Funktion des Kangling, also der Oberschenkelknochen-Trompete, ist in diesem Moment die Visualisation zu explodieren und größere Klarheit zu bringen. Dies ist tatsächlich eine Bardo-Erfahrung – an dem Punkt, wenn der Kangling geblasen wird, gibt es nur die Leerheit zwischen „dann“ und „wann“.

F Kannst du noch etwas zum Bardo sagen?

R Bardo kann missverstanden werden als das Intervall zwischen den aufeinander folgenden Wiedergeburten, aber Bar-do bedeutet in Wirklichkeit „Lücke“ oder „Zwischenraum“. Bar bedeutet eine Art „Fließen“, „Fluss“ oder „Bewegung“ und do bedeutet „Insel“. Er ist also ein Zwischenraum oder spezieller Punkt. Es gibt viele Bardos… da ist der Bardo des Todes und der Bardo des Lebens. Es gibt den Bardo der Visionen, der im Stadium des Todes erscheint und der Bardo des Werdens, des Traums, der Meditation. Somit ist Bardo ein sehr interessantes Konzept. Es gibt den Bardo eines jeden Tages, eines besonderen Jobs, einer besonderen Beziehung, einer besonderen Abfolge von Ereignissen; alles ist in diesem Sinne Bardo, im Sinne einer erfüllten Erfahrung. Wie der Bardo dieses Interviews – hier in diesem Zelt. Diesem wird der Bardo eines Ganges zum Schreinraum folgen, und so weiter. Dies ist wie ein Zwischenraum oder ein Feld einer besonderen Qualität der Erfahrung, auf welche ein Zwischenraum folgt, auf welchen ein Zwischenraum folgt. Jeder folgende Zwischenraum hat seinen eigenen Geschmack. Im Sinne der Bardo-Erfahrung ist jeder Zwischenraum abgetrennt und eigenständig. Wenn jemand wirklich in den Bardo-Zustand eintritt, dann gibt es nur das – es ist wirklich nur ein Raum – hier, in diesem Augenblickspunkt, aber sich in die Ewigkeit ausdehnend. Bardo ist essentiell jetzt. Wenn du zerstreut bist, angenommen, dir geht etwas im Kopf herum… dann ist dies nicht die verwirklichte Erfahrung des Bardo.

F Was ist es dann, Rinpoche?

R Es ist der Bardo der Dualität. Der Bardo der Dualität möchte die individuelle Qualität dieser endlos erscheinenden und vergehenden Bardos in eine Art solide Basis homogenisieren, wo sich nichts jemals ändert. Die authentische Erfahrung des Bardo ist eine Art Blasenerfahrung – sie ist da, und dann ist sie weg… und da ist eine andere, noch eine andere, und noch eine andere. Dies unterteilt sich in kleinere, kleinere, kleinere und kleinere Erfahrungsfelder, bis da nur Jetzt ist. Also… sind da Blasen innerhalb dieser Blasen. Diese Erfahrungsblasen, diese Bardos, sind verbunden mit Leerheit – falls du das kennst… es wird Erleuchtung genannt (Lachen). Wenn es Vorstellung ist, was die Bardos verbindet… ist dies bekannt als Unerleuchtetsein! Also, … wenn Konzepte diese erfahrbaren Räume verbinden, willst du die Bardo-Erfahrung in den Hintergrund drängen, so dass es keine verschiedenen Bardos gibt. Du willst lieber kontinuierliche Erfahrung als diskontinuierliche haben. Das ist der Wunsch, Kontinuität zu erfahren – aber es gibt keine Kontinuität, abgesehen von Leerheit! Das ist die Kontinuität… deretwegen Tantra (Gyüd in Tibetisch) mit „Faden“ übersetzt wird, aber der Faden ist leer.

F Rinpoche, gibt es irgendeinen bestimmten Punkt in einer Praxissitzung, an dem man am besten Lama’i Naljor praktiziert?

R Du kannst Lama’i Naljor für sich allein praktizieren. Oder, falls du andere Praktiken ausübst, dann wird Lama’i Naljor üblicherweise vor die ausgedehnte Periode des stillen Sitzens gelegt – das deswegen, um im leeren Zustand verweilen… du kommst dahin durch die Lama’i Naljor Praxis und dann bleibst du einfach darin. Du kannst, natürlich, kürzere Perioden stillen Sitzens nach jeder Phase der Praxis einlegen, aber Lama’i Naljor wird üblicherweise vor einer ausgedehnten Phase stillen Sitzens gemacht. Dies ist, wie auch immer, eher ein Vorschlag als eine strenge Regel.

F Wenn du begrenzte Zeit hast, Rinpoche, ist es besser, Lama’i Naljor eher als eine andere Praxis zu machen, zum Beispiel anstelle des Dorje-tsig-dun (Sieben Zeilen Gebet) zu singen?

R Gewiss kann Dorje-tsig-dun Lama’i Naljor sein, wenn du die Übertragung der leuchtenden Keimsilben erfährst. Also sollte man immer Lama’i Naljor praktizieren. Aber das Lama’i Naljor, das du praktizierst, muss nicht immer das von Machig Lapdron sein. Es könnte einfach der Klang von A am Ende von des Dorje-tsig-dun sein, wenn Du die Empfindung hast, dass das A die Einheit all deiner Lehrer ist und wenn du die Präsenz des Gewahrseins in der Dimension des weißen A findest. Dies ist Lama’i Naljor auf der Ebene des Dzogchen. Du kannst es also auf diese Weise machen. Es ist wirklich unerlässlich, dass ein Praktizierender jeden Tag Lama’i Naljor übt. Darüber hinaus kann diese Art Praxis mehrere Male am Tag gemacht werden. In den neueren Schulen, insbesondere in der Gelug Schule, wird von sechs Sitzungen Guru Yoga gesprochen. In der Nyingma Schule wird von vier Sitzungen Guru Yoga gesprochen. Diese Sitzungen nennen wir Thuns – wobei die Praxisphase eines Thun die grundlegende tantrische Verpflichtung darstellt. Aber dies bedeutet nicht, dass vier oder sechs Zeiten genug sind. Die Idee ist, dass sie über den Tag verteilt sind. Wenn du weißt, wie Lama’i Naljor mit diesem weißen A praktiziert wird, dann kannst du es hundert Mal am Tag tun – es gibt keine Obergrenze… Lama’i Naljor ist nicht nur die Rezitation eines Textes, es ist die tatsächliche Empfindung oder Erfahrung der Vereinigung mit dem Geist des Lehrers. Es ist diese Erfahrung von Vereinigung, die wichtig ist, und das muss nicht sehr lange dauern. Also, um es einfach zu machen, kann es bedeuten, eine Erinnerung an deinen Lehrer zu haben. Es kann bedeuten, A zu singen und die Präsenz des Gewahrseins in der Visualisierung zu finden, dass das weiße A der Geist deines Lehrers ist. Das ist wirklich essentiell. Das kann häufig praktiziert werden. Mit vier oder sechs Zeiten ist wirklich nur „oft” gemeint. Die wirkliche Bedeutung ist die, dass du auf eine stärker integrierte Art lebst. Du lebst in der Präsenz des Lamas. Du lebst mit dieser Empfindung von Gewahrsein. Es durchdringt deine Existenz. Deshalb… je mehr du es praktizieren kannst, desto besser. Lama’i Naljor kann deinem Wissen entsprechend abgekürzt werden. Um ein Beispiel zu nennen: Du könntest Machig Labdrön visualisieren, während du in einem Bus sitzt. Du könntest lautlos die Drei Ermächtigungen durch die drei farbigen Lichter und mit den Keimsilben empfangen: Om, A’a und Hung. Dann könntest du mit der Visualisation eins werden – das wäre Lama’i Naljor. Es gibt also viele Wege, Lama’i Naljor zu praktizieren, aber das wichtigste ist, dass du praktizierst, dass du es tust, wie verkürzt auch immer.

F Rinpoche, ist die Vergegenwärtigung deines Lehrers genauso wichtig wie die Visualisation im Lama’i Naljor?

R Oh ja… was sonst… Ich würde sagen, es ist wichtiger. Sofern ich nicht dieser Lama bin (Lachen). Dann wäre es fast besser, Lama’i Naljor zu praktizieren.